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Die Frau, die vom Himmel fiel: Roman (German Edition)

Die Frau, die vom Himmel fiel: Roman (German Edition)

Titel: Die Frau, die vom Himmel fiel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Mawer
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Ohr: »wir sind fast da, liebes! fertig machen!«
    Liebes . Sie mag das. Englische Fürsorglichkeit. Die Bodenluke wird erneut geöffnet, und als sie hindurchspäht, sieht sie etwas Neues, bleiche Felder und dunkle Wälder huschen unter dem Flugzeug vorbei, fast zum Greifen nahe. Die weiten Eb’nen Frankreichs , hat ihr Vater immer gesagt. Benoît, der jetzt hellwach und konzentriert ist, klopft seine Taschen ab, um sich zu vergewissern, dass er alles hat, zieht Reißverschlüsse zu, kontrolliert seine Ausrüstung.
    Das Flugzeug neigt sich zur Seite, fliegt mit kreischenden Motoren einen weiten Kreis. Sie kann sich den Piloten vorn im Cockpit vorstellen, wie er sucht und sucht, angestrengt nach den winzigen Taschenlampenlichtern Ausschau hält, die signalisieren, dass sie da unten im Dunkeln erwartet werden. Ein Lämpchen geht am Rumpfdach an, ein einzelnes, starres rotes Auge. Der Absetzer hebt die Daumen. »er hat’s gefunden!«
    In seiner brüllenden Stimme schwingen Ehrfurcht und Triumph mit, als wäre das der Beweis dafür, was für Wunder seine Crew zustande bringen kann: im Dunkeln den ganzen Weg bis hierher zurückzulegen, achthundert Meilen von zu Hause, und in einer pechschwarzen Welt ein stecknadelkopfgroßes Licht zu entdecken. Er hakt die Aufziehleinen ihrer Fallschirme an der Stange am Rumpfdach ein und überprüft noch einmal die Schnallen an ihren Gurten. Das Flugzeug überquert die Absprungzone, und sie kann das Geräusch hören, wie die Behälter aus dem Bombenschacht fallen, und sieht ihre geblähten Fallschirmkappen kurz darunter aufleuchten. Dann legt sich die Maschine in die Kurve und dreht und nimmt ein zweites Mal Anlauf.
    »jetzt seid ihr dran!«, brüllt der Absetzer ihnen zu.
    » Merde alors!«, formt Benoît mit den Lippen und grinst Marian an. Er wirkt aufreizend unbekümmert, als wäre das alles der normale Lauf der Dinge, als wäre es die selbstverständlichste Sache der Welt, dass Leute sich mitten in der Nacht über einer unbekannten Gegend aus einem Flugzeug werfen.
    Merde alors!
    Sie sitzt am Lukenrand, die Beine draußen im Luftsog, als säße sie auf einem Felsen mit den Füßen im strömenden Wasser. Benoît ist direkt hinter ihr. Sie spürt seinen Druck an ihrem unförmigen Fallschirmrucksack, als wäre das Ding eine empfindliche Erweiterung ihres Körpers. Sie spricht ein kleines Gebet, eines, das sie aus Kindheitserinnerungen kramt, aber dennoch ein Gebet und somit ein Zeichen von Schwäche: Lieber Gott, bitte pass auf mich auf. Was vielleicht bedeutet: Vater, pass auf mich auf, oder Maman , pass auf mich auf, aber was immer es auch bedeutet, sie will jetzt keine Schwäche zeigen, nicht in diesem Moment, in dem sie sich ausliefert und die Luft an ihr vorbeirauscht und unter ihr Leere ist, während der Absetzer ihr zunickt, um ihr Mut zu machen, und doch bloß den beängstigenden Aberglauben in ihr weckt, dass du dir niemals selbst gratulieren, niemals applaudieren, niemals jemandem Glück wünschen darfst. Merde alors! , mehr solltest du niemals sagen. Merde alors! , denkt sie, in gewisser Weise auch ein Gebet, als das rote Lämpchen erlischt und das grüne Lämpchen angeht und der Absetzer ruft: » SPRUNG !«, und schon spürt sie seine Hand auf dem Rücken und lässt los, stürzt von der rauen Behaglichkeit im Rumpf in die tosende Dunkelheit über Frankreich.

LONDON
    I
    Er hieß Potter, was irgendwie unpassend war. Er hatte eine nörgelige, flötende Stimme und eine kühle Art, als ob sie seinen Ansprüchen eigentlich nicht genügen würde, er sie aber aus Höflichkeit dennoch empfing. »Danke, dass Sie den weiten Weg auf sich genommen haben«, sagte er. »Und sich extra freigenommen haben. Bitte, machen Sie es sich doch bequem.«
    Es schien unmöglich, dieser Aufforderung nachzukommen: Der Raum war fast völlig leer geräumt worden. An einer freien Stelle hatte wahrscheinlich einmal ein Bett gestanden – ein Kopfbrett war an der Wand befestigt, und die beiden kleinen Regale links und rechts hatten wohl als Nachttische gedient –, doch ansonsten waren die einzigen Möbelstücke ein Tisch und zwei Stühle. Eine nackte Glühbirne hing von der Decke.
    Sie setzte sich, nicht vorn auf die Kante des Stuhls und auch nicht bequem zurückgelehnt wie bei sich zu Hause im Wohnzimmer, weder das eine noch das andere, sondern aufrecht, entspannt und wachsam, während er ihr gegenüber Platz nahm und freundlich lächelte. Er war ein durchschnittlich aussehender Mann, die Sorte, die

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