Die Frau, die vom Himmel fiel: Roman (German Edition)
nur eine Schätzung – die Überlebenschancen auf fifty-fifty.«
»Fifty-fifty?« Das klang absurd. Ein Münzwurf. Kein Wunder, dass ihr das Angst machte. Aber es war die Angst, die sie beim Skilaufen empfunden hatte, die Angst, einen Steilhang hinabzustürzen, die Angst, die sie gehabt hatte, als sie mit ihrem Onkel bergsteigen war, die ehrfürchtige Angst vor dem leeren Raum unter ihren Füßen, eine Angst, die fast schon an Freude grenzte. Sie hätte am liebsten eine große Geste gemacht, vor Glück gelacht und »Ja!« geschrien, um dann vom Stuhl aufzuspringen und die Arme um diesen seltsamen Mann mit seinen schrillen, unheilvollen Prophezeiungen zu werfen. Stattdessen nickte sie nachdenklich. »Was ist mit meiner Einheit?«
»Sie müssen nicht zu Ihrer Einheit zurückkehren. Falls Sie sich für mein Angebot entscheiden, werden Ihre Sachen für Sie abgeholt, und Ihre Kollegen werden über Ihre Versetzung in ein anderes Aufgabengebiet informiert. Ich muss Ihnen mit aller Deutlichkeit sagen, dass niemand irgendetwas erfahren darf. Weder Angehörige noch Partner. Haben Sie einen Freund?«
Sie blickte auf ihre Hände, die reglos auf ihrem Schoß lagen. Könnte Clément in diese Kategorie fallen? Wann verwandelte sich eine jugendliche Schwärmerei in eine erwachsene Beziehung? »Ich hatte jemanden in Frankreich. Wir haben uns geschrieben, aber seit dem Einmarsch …«
»Nun, das ist gut. Derartige Beziehungen müssen Sie leider radikal abbrechen. Keine Erklärung, kein Abschied. Ihr Bruder – soweit ich weiß, wurde er aufgrund seiner beruflichen Tätigkeit als unabkömmlich eingestuft …«
»Ned? Er ist Wissenschaftler. Physik.«
»Er darf nichts erfahren, rein gar nichts. Wenn Sie Bescheid bekommen, befolgen Sie lediglich unsere Anweisungen und machen sich auf den Weg zum Bewertungsausschuss. Dort wird man Sie vier Tage lang diversen Tests unterziehen, um festzustellen, ob Sie den Anforderungen der Aufgabe gewachsen sind, für die wir Sie vorgesehen haben.«
»Das klingt wie eine Exekution. Sie werden von diesem Gericht zum Exekutionsplatz geführt werden, wo Sie am Halse aufgehängt werden …«
»Die Sache ist kein Spaß, Marian«, sagte er. »Sondern todernst.«
Sie lächelte ihn an. Sie hatte ein gewinnendes Lächeln, das wusste sie. Ihr Vater hatte es ihr oft bescheinigt. »Das sollte auch kein Spaß sein, Mr Potter.«
Sie ging aus dem Gebäude, vorbei an den Sandsäcken und den Wachen und hinein ins helle Licht der Northumberland Avenue. Nahm irgendwer von ihr Notiz? Sie wünschte es sich. Sie wollte in den Augen der anonymen Passanten außergewöhnlich wirken – genial, draufgängerisch, tapfer. Sie würde nach Frankreich gehen. Wie auch immer die so was organisierten – würde sie an die Küste schwimmen? Oder zu Fuß von der Schweiz aus die Grenze überqueren? Oder mit einem leichten Flugzeug landen? –, irgendwie würde sie nach Frankreich kommen. Sie ging das kurze Stück zum Embankment und blickte über den Fluss. Die Ebbe hatte den Wasserstand sinken lassen, und Seevögel trippelten über den frei liegenden Uferschlamm, Möwen lachten und kreischten. Sie hätte gern mit ihnen zusammen gelacht und gekreischt. Gelacht vor schierer Freude und gekreischt vor einer atemberaubenden Art von Furcht. Züge ratterten hoch oben über die Brücke. Aus dem Schatten der U-Bahn-Station tauchten Menschen auf, blinzelten ins Sonnenlicht, genauso wie sie in das Sonnenlicht ihres neuen Lebens. Vielleicht war der nächste Fluss, den sie sah, die Seine. Wie außerordentlich! Marian Sutro, die unter irgendeinem Decknamen lebte – »Colette« würde ihr gefallen –, könnte schon bald am Ufer der Seine stehen, gleich neben dem Pont Neuf, und übers Wasser schauen, vorbei an der Île de la Cité zum Louvre auf der anderen Seite. Um sie herum würden die Menschen der Stadt sich fragen, wann und ob die Briten kommen würden, um sie aus ihrem Elend zu retten, wo sie doch in Wahrheit schon da waren, in ihrer kleinen Gestalt.
III
»Wir freuen uns sehr, Sie als Freiwillige begrüßen zu können«, sagte der groß gewachsene Mann. Er trug die Uniform eines Lieutenant-Colonel und hatte anscheinend das Sagen. Durch das Fenster hinter ihm konnte sie die Bäume in der Mitte des Platzes sehen. Schwacher Verkehrslärm drang durch die Scheibe. Das Gebäude hieß Orchard Court, und es war nicht klar, ob es sich um Wohnräume oder um Büros handelte. Wahrscheinlich war es eine seltsame Mischung aus beidem: So konnte man
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