Die Frau, die vom Himmel fiel: Roman (German Edition)
Wo lagen die Betonung und der Akzent? Und was würde nun mit diesem sonderbaren Zwitterwesen geschehen?
Sie zog sich vor dem Spiegel aus, warf ihre Kleidung aufs Bett und verwandelte sich von der selbstsicheren Erwachsenen, die andere sehen mochten, in das scheue Kind, das nur sie allein kannte, fade, blass, mit plumpen Gliedern und Hüften und kleinen, spitzen, unscheinbaren Brüsten. Was tun mit diesem Wesen, das noch nie mit einem Mann zusammen gewesen war, noch nie allein in einem Hotel gewohnt hatte, noch nicht mal allein in einer Bar gewesen war? Und doch war sie jetzt hier, allein in dieser grauen, schwer geprüften Stadt, um irgendeine Ausbildung anzufangen, die sie auf Frankreich vorbereiten sollte. Unwahrscheinlicher ging es kaum noch.
Sie öffnete die Schranktür und fegte die junge Marian beiseite. Sie nahm ihr Cocktailkleid heraus und hielt es sich vor. Es war von einer Eleganz, die in London nicht mehr zu finden war. Oder vielleicht war diese Eleganz ja auch schon vor dem Krieg in London nicht zu finden gewesen, denn sie hatte das Kleid in Genf bei einem Couturier gekauft, der immer die neuste Mode direkt aus Paris bezog. Sie hatte gut darauf aufgepasst, erst bei der überstürzten Flucht aus der Schweiz durch Frankreich, dann in den ermüdenden Monaten im Exil in England. Getragen hatte sie es nur ein einziges Mal, auf einer Tanzveranstaltung, zu der einer der Offiziere aus Stanmore sie eingeladen hatte. Er hatte gesagt, wie gut sie ihm gefiel, und am Ende hatte er auf dem Rücksitz seines Wagens versucht, ihr das Kleid auszuziehen. Für Ned war das Kleid natürlich die reinste Verschwendung, aber zumindest würde sich so ein peinlicher Vorfall wie mit dem Offizier nicht wiederholen.
Sie wusch sich und zog sich an und steckte ihr Haar hoch – Clément hatte immer gesagt, dass sie so älter aussehe. Dann schminkte sie sich – noch immer ungewohnt, noch immer ganz gewagt –, nahm ihren Mantel und ging vorsichtig nach unten. Die Bar war verraucht und laut und erfüllt von männlichem Gelächter, das laute Gebrüll des Engländers in seinem Element. Einige Männer warfen ihr Blicke zu, als sie sich vorbeischob und auf einen freien Tisch in der Ecke zusteuerte, aber die meisten ignorierten sie. Eine Frau allein in einer Bar war mittlerweile nichts Besonderes mehr. Mit einem Gin Tonic in der Hand beobachtete sie das Treiben. Es waren drei- oder viermal mehr Männer da als Frauen. Ausnahmslos Offiziere. Aber inzwischen war sie ja anscheinend auch Offizierin, und obendrein eine FANY . Was auch immer das in der komplizierten Welt des britischen Protokolls heißen mochte.
»Darf ich mich zu Ihnen setzen?«
Sie sah sich um. Alle anderen in der Bar tranken Bier oder Gin, er dagegen hatte ein Glas Rotwein in der rechten Hand und einen Hocker in der anderen, und er sprach mit einem unverkennbar französischen Akzent. Eine brennende Zigarette wippte zwischen seinen Lippen auf und ab. »Sie sind allein, und Sie sind die schönste Frau hier, finde ich …«
Sie zuckte die Achseln und blickte Richtung Tür, als würde sie jemanden erwarten. Der Franzose setzte sich. Er war jung, nicht älter als sie, und einigermaßen attraktiv, mit einer lässigen, direkten Art, die Sorte junger Mann, die sie aus Grenoble kannte, wenn sie und ihre Cousine abends ausgegangen waren, um kichernd und tuschelnd durch die Cafés zu ziehen und sich älter zu geben, als sie in Wirklichkeit waren.
»Möchten Sie rauchen?« Er bot ihr eine Zigarette aus einer zerknitterten Packung an. Es war keine Senior Service oder so. Es war eine Gauloise. Sie schüttelte den Kopf. Er zuckte mit den Schultern. »Mein Name ist Benoît. Darf ich fragen, wie Sie heißen?«
Sie war unsicher, wie sie antworten sollte. Überhaupt, wenn sie ihren Namen nennen sollte, welcher wäre das dann? War sie Marian oder Marianne? Die Frage war heikel. Um sie herum herrschte wildes Gedränge, und irgendwie schienen sie und dieser unbekannte Franzose auf einmal eine Einheit zu bilden. Woher kam er? Wieso war er hier? Wohin gehörte er in dieser lauten, zerbombten, unverwüstlichen Stadt? Irgendjemand rempelte sie an, entschuldigte sich und taumelte dann weiter ins Gewühl. Und sie fragte sich, ob dieser Franzose geschickt worden war, um zu testen, ob sie irgendetwas preisgeben würde.
»Ich bin Anne-Marie«, sagte sie spontan.
»Ah, Anne-Marie. Das ist ein schöner Name.«
»Es ist ein Name. Bloß ein Name.«
Er trank einen Schluck von seinem Wein und zog eine
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