Die Frau, die zu viel fühlte - Roman
mir in meiner Aufgeblasenheit bestimmt eingeredet hatte. Genau diese Aufgeblasenheit hat man mir schon mehr als einmal vorgeworfen. Ich versuche es ja, aber es ist ziemlich schwierig, nicht aufgeblasen zu klingen, wenn man sich vieler Dinge ziemlich sicher ist.
Wie auch immer, der Fund der Schnappschüsse und Hesters Kommentar waren wohl ein Hinweis darauf, dass ich das Bedürfnis hatte, hin und wieder all der Gehässigkeit und dem Neid und der Eitelkeit und der Gier des öffentlichen Lebens zu entfliehen, das mich so lange von den einfachen, alltäglichen, persönlichen Dingen, die das Leben fast aller anderen bestimmen, abgelenkt hatte. Vielleicht fragte ich mich auch, ob mich das alles ärmer gemacht hatte, die Anstrengung des rein rationalen Denkens. »Private Gesichter in der Öffentlichkeit sind klüger und netter als öffentliche Gesichter im privaten Raum.« Was für eine private Welt konnte ich jetzt noch bewohnen, da es diesen öffentlichen Gesichtern doch so am Herzen lag, mir schönzutun und mich zu beeindrucken, damit sie von dem Kommentator, der einmal als der »geachtetste von allen« galt, lobend erwähnt wurden? In dem Buch, das ich veröffentlicht hatte, ging es um die grundlegenden Überzeugungen, ob religiöser oder anderer Art, von politischen Führern und Parlamentariern, und was es für Ähnlichkeiten gab mit politischen Persönlichkeiten in anderen Ländern. Es kam zu dem Schluss, dass es im Großen und Ganzen kaum nennenswerte Überzeugungen gab. Ehrgeiz und Eigennutz waren die Motive, die sie vor allem antrieben, alle moralischen Alternativen wurden dem Machttrieb untergeordnet. Es ging um die Leere im öffentlichen Herz der Dinge, während es im Privaten doch eine solche Überfülle an persönlicher Güte gibt – ganz zu schweigen von der riesigen Kluft zwischen dem, was Politiker und dergleichen glauben, worüber die Menschen sich den Kopf zerbrechen, und dem, worüber sie ihn sich wirklich zerbrechen. Ich frage noch immer, nach welchen Prinzipien, falls überhaupt, unsere politischen Führer leben – ganz zu schweigen von den Finanziers, Industriekapitänen und dergleichen. War ich zu zynisch, um einzugestehen, dass es unter ihnen einige gibt, die angetrieben sind vom Wunsch, in der Welt Gutes zu tun? Dabei ist es doch der Zynismus, den ich bei anderen so verabscheue.
Ich sage das alles jetzt, da solche Urteile oberflächlich erscheinen, geschrieben nur um der Wirkung und der Anerkennung willen, für ein Schulterklopfen, wobei das Buch allerdings recht gut aufgenommen wurde. Wie dem auch sei, das Folgende habe ich zu der Zeit über Julie geschrieben.
*
Inzwischen haben wir Julie fast zwanzig Jahre nicht gesehen. »Arme, kleine Julie« nannten wir sie früher, bevor es wirklich anfing, schlecht für sie zu laufen. Mit den Jahren haben wir es immer mehr vermieden, sie auch nur zu erwähnen. Wichtig war allein, ob einer von uns beiden etwas von ihr gehört hatte, und diese Neuigkeit hätte dann natürlich nicht Zeit gehabt bis zum nächsten unserer Routineanrufe.
Die Anrufe sind inzwischen wirklich fast reine Routine, das muss ich leider sagen. Hester lebt in Lincolnshire und kommt nie nach London. »Warum um alles in der Welt sollte ich das tun?«, fragt sie mit ihrer weltverdrossenen Stimme und fügt vielleicht noch hinzu: »Außer um diesen brillanten Bruder von mir zu besuchen?« oder etwas Ähnliches. Ihre Selbstbeherrschung scheint ihr jede Freude, jede frohe Erwartung abgedrückt zu haben, so dass sogar das Gefühl für das Schwinden der Zeit beinahe etwas Extravagantes ist. Immer wenn wir miteinander telefonieren, ist das Gesicht, das ich mir vorstelle, ein statisches und schattenloses, die Augen hinter ihren dicken Brillengläsern unsichtbar, als würde sie mit geschlossenen Augen vor einem Spiegel stehen – eine Verdrängung, kein Ausdruck der Verzweiflung. Das ist zumindest mein Bild von ihr. Das Talent zum Schreiben kann mehr sein als nur eine Möglichkeit, den Lebensunterhalt zu verdienen. Bin ich ihr je gerecht geworden? Was das angeht, bin ich je irgendjemandem gerecht geworden?
Sie könnte auch noch hinzufügen, dass sie sich über mich auf dem Laufenden hält, indem sie hin und wieder meine Kolumne liest und mich »im Fernseher« sieht, wie sie es nennt. Sie kommentiert nie, was ich schreibe oder sage, stimmt mir weder zu, noch widerspricht sie mir; das ist einfach mein Beruf. Es gibt nichts, was ich sie über ihr kleines Haus oder ihren kleinen Garten oder ihre
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