Die Frau, die zu viel fühlte - Roman
ja schließlich nur ein Junge.«
»Du meinst, dass ich mich im Rückblick viel empfindsamer dargestellt habe, als ich es tatsächlich war.«
»Ach, aber an dem Punkt kommt ja auch das Belladonna ins Spiel, nicht? Ich meine, wenn ich es nicht gesehen hätte, vielleicht hätte ich mich, hättest du dich gefragt, ob du es dir nicht nur vorgestellt hast, ob dir so etwas überhaupt eingefallen wäre.«
»Nun ja, ich muss wohl ziemlich wütend gewesen sein«, erwiderte ich. »Aber kann es denn nicht möglich sein, dass man seine Mutter zu sehr liebt?«
»Deshalb habe ich auch nichts gesagt, obwohl ich damals noch nichts von der Tödlichkeit des Nachtschattengewächses wusste. Wahrscheinlich dachte ich, dass er davon vielleicht nur ein bisschen Bauchschmerzen bekommt.«
»Inzwischen habe ich gelernt, dass schon ein gutes Dutzend von den Dingern nötig gewesen wäre, um ihn umzubringen. Vielleicht wusste ich das damals schon.«
»Es zählt nur, was du zu der Zeit wusstest. Wie auch immer, wenn ich mir meine Notizen von damals ansehe, glaube ich nicht, dass ich mich so deutlich daran erinnert habe wie du. Wie du ja zugibst, hast du es vielleicht ein bisschen ausgeschmückt, die Details, wenn auch nicht die ganze furchtbare Stimmung. Und ja, wenn ich jetzt so darüber nachdenke, ich wollte dich wirklich wiedersehen, vor allem, nachdem ich dich beim Ascheverstreuen alleingelassen habe.«
Um das Thema zu wechseln, deutete ich auf das Typoskript. »Wie du siehst, habe ich dem Bericht einen ziemlich dramatischen Titel gegeben: Der Tag, an dem ich meinen Vater tötete. «
Sie nahm die Blätter zur Hand, machte ein schnelles Zeichen auf die Titelseite und zeigte sie mir. Sie hatte ein Ausrufungszeichen hinzugefügt.
Ihre alte, abrupte Zensorstimme war wieder da, als sie mit einem Seufzen hinzufügte: »Der Schluss ist vielleicht etwas zu gut geschrieben. Hast dich da ein bisschen hinreißen lassen. Du warst ja so ein ernster, junger Mann. Na ja, du musstest dich selber ernst nehmen, falls du im Leben irgendwas erreichen wolltest. Entschlossenheit verträgt sich nicht gut mit Humor. All diese zögerlichen Fragen wären dann erst gar nicht gestellt worden. Und nein, ich hätte sie wahrscheinlich auch gar nicht beantworten wollen. Du hattest recht. Man ließ mich am besten in Ruhe. Damals. Und auch seit damals, schätze ich.«
Dazu sagte ich gar nichts. Sie hatte mit einem Tonfall gesprochen, den ich als feindselig verstand, aber sie streckte die Hand nach mir aus, als wollte sie sie mir aufs Knie legen. Vielleicht war es einfach nur Ungeduld gewesen, doch ich konnte nicht sicher sein, weil sich das Licht auf ihrer Brille spiegelte. Ich fragte mich, ob sie es aufgegeben hatte, mit ihren Augen irgendetwas auszudrücken, ob sie sich nun mit einem Stirnrunzeln, erhobenen Augenbrauen und einem Zusammenpressen der Lippen begnügen musste.
Sie sagte, sie nehme an, ich würde zum Abendessen bleiben, und als sie aufstand, streckte sie nun wirklich die Hand aus, um meine Schulter zu drücken. An diesem Abend sprachen wir nicht mehr über unsere Kindheit oder über Julie, deren Erwähnung wir irgendwie völlig vermieden hatten. Ich erzählte ihr von meinen Überlegungen, ein Jahr Forschungsurlaub zu nehmen, um ein neues Buch zu schreiben, dass ich damit aber riskieren würde, meine Kolumne ganz zu verlieren, wenn ein anderer meine Stelle einnahm und sich als besser erwies als ich. Es war – es ist einfach so, dass es eine lange Schlange ehrgeiziger, junger Kommentatoren gibt, die pfiffiger schreiben und besser eingestimmt sind auf die Mentalität der Jungen und die alle nur zu gern bereit wären, mich zu ersetzen. Und in der Tat hatte mich mein Chefredakteur – obwohl er ein Freund ist – vor kurzem gefragt, ob ich eigentlich ewig weitermachen wolle.
Im Gespräch mit Hester ging es ausschließlich um mich, obwohl ich nur ihre Fragen beantwortete. Ich fragte mich, ob das alles war und wir nichts anderes zu besprechen hatten. Ich hatte ihr die Fotos gezeigt, wir hatten uns an unsere Kindheit erinnert, ich hatte ihr das Neueste aus meinem Leben erzählt, und Julie, ja nun, was gab es über sie zu sagen?
Am Ende des Abends sagte Hester jedoch, sie hoffe, ich würde ein paar Tage bleiben, falls ich Zeit hätte. Ich hatte es zwar nicht vorgehabt, doch jetzt schien sie mir sagen zu wollen, dass es noch viel Unausgesprochenes gebe und wir einander besser kennenlernen sollten. Ich zögerte einen Augenblick, erwiderte dann, ich hätte es
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