Die Frau, die zu viel fühlte - Roman
gutging, dass ich sie besuchen und diesen Ordner mitnehmen musste. Hester würde mir ziemlich schnell sagen, ob der Bericht der Wahrheit entsprach. Sie hatte recht. Einen Tag nach unserem Besuch bei Mutter hatten wir in dieser Krankenhauscafeteria Kaffee getrunken, und ich hatte zugegeben, dass ich Vaters Verschwinden und den letzten Ausflug noch so lebhaft vor mir hatte, dass ich versuchen sollte, das alles niederzuschreiben, wenn auch nur, um es aus unserem System zu bekommen, es zu exorzieren – auch wenn keiner von uns diesen Begriff je verwendet hätte. Nachdem wir Mutter so daliegen sehen hatten, gesehen hatten, wie der letzte Rest an Kraft aus ihr herausfloss, wie sie verwelkte, ihre Augen so groß und so völlig leer, dass sie uns kaum deutlicher wahrzunehmen schienen als das Zimmer und das helle Licht vor dem Fenster, dachte ich mir, genau das hat unser Vater ihr angetan, und plötzlich überwältigte mich der Hass auf ihn. Vielleicht hatte ich Hester das gestanden. Vielleicht hatte ich gesagt, dass mir sein Abgang nichts ausgemacht hatte. Jedenfalls glaube ich, dass sie nickte und meinte, sie würde auch aufschreiben, woran sie sich erinnerte. Letztendlich aber schickte ich ihr nicht, was ich geschrieben hatte. Ich denke, vorwiegend, weil ich nicht wollte, dass sie las, wie ich versucht hatte, ihn zu vergiften. Und jetzt sagte sie mir, dass sie das die ganze Zeit schon vermutet hatte.
Und so fuhr ich sie besuchen. Sie hatte für mich ein Zimmer in einem Bed & Breakfast in der Nähe gebucht, weil sie meinte, wir würden beide nicht wollen, dass wir uns den ganzen Tag lang über den Weg liefen. Ich erkannte, wie weit wir uns voneinander entfernt hatten und dass ich es riskiert hatte, mehr als eine Schwester zu verlieren. Julie mochte inzwischen viele Freunde haben, vielleicht sogar eine eigene Familie. Hester schien niemanden zu haben, und einmal sagte sie mir, dass es ihr so auch lieber sei. »Ich lerne eine ganze Menge Leute in meinen Büchern kennen, vielen Dank.« Das hatte ich ihr damals geglaubt. Ich hatte mir ihre Strenge bei der Arbeit vorgestellt, bei der Leitung von Bibliotheken, bei diversen Ausschusssitzungen und so weiter. Es war eine Strenge, die sie auch auf sich selbst anzuwenden gelernt hatte. Doch bald sollte ich entdecken, dass viel mehr an ihr war, als sie mich hatte glauben machen wollen.
Sie hatte sich verändert. Kurz nach meiner Ankunft sagte sie mir, dass schon vor einer Weile bei ihr Krebs diagnostiziert worden sei, dass sie jetzt in Rekonvaleszenz sei und dass es ihr, abgesehen von den Nebenwirkungen der Medikamente und der Therapie, schon »sehr viel besser« gehe. Die Veränderung hatte mit etwas anderem zu tun. Obwohl sie nur selten lächelte, war die alte, disziplinierte Wachsamkeit verschwunden, und hin und wieder schaute sie mich verstohlen an, als wollte sie herausfinden, ob es zwischen uns vielleicht eine verborgene Wesensverwandtschaft gäbe. Ich hatte keine Ahnung, welche Freunde sie haben mochte, und ich nahm an, dass sie es vorzog, ohne Freunde zu sein, sich davor hütete, Herzlichkeit zu zeigen oder jemanden in ihre Nähe zu lassen. Sie hatte intakt bleiben wollen. So hatte ich sie mir vorgestellt, denn ihre barsche Stimme verriet nichts von ihr selbst. Unsere Lebenswege hatten sich stetig auseinanderentwickelt, seit sie ihren Abschluss als Bibliothekarin an der Birmingham University gemacht hatte und in den Midlands geblieben war. Sie hatte ein ganzes Leben gelebt, über das ich so gut wie gar nichts wusste – diese eigensinnige, effiziente Frau, die eine Invasion ihres Körpers abwehrte und jetzt an ihre Kindheit erinnert werden wollte.
Ich hatte noch immer Zweifel, ob ich ihr zeigen sollte, was ich vor so vielen Jahren geschrieben hatte. Hin und wieder hatte ich einen flüchtigen Blick zu diesem Ordner auf meinem Schreibtisch geworfen und mir gedacht, dass der Text immer unzuverlässiger und unwichtiger geworden war und ich ihn vernichten sollte. Ich redete mir ein, er wäre gefärbt von Mutters Krankheit, von den Übertreibungen und Verzerrungen meiner Erinnerung, von der künstlerischen Freiheit eines Menschen, der sich zu der Zeit (ich war damals Mitte zwanzig) als angehender Schriftsteller betrachtete. Mir graute vor Hesters Reaktion. Ich konnte mir gut vorstellen, dass sie sagte, das sei doch alles nur egozentrischer Quatsch.
Doch es kam ganz anders. Nachdem ich meinen Koffer im B & B abgestellt hatte, erreichte ich am frühen Abend ihr Cottage. Das letzte
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