Die Frau in Rot: Roman (German Edition)
Wangenknochen. Die kupferfarbenen Locken sahen stumpf und ungepflegt aus; ihre grünen Augen waren trüb, als würden sie hinter einer milchigen Scheibe liegen. Das gefeierte Topmodel, das die Titelseiten internationaler Modemagazine geziert hatte, war nur noch ein Schatten seiner selbst.
Damaris’ Herz krampfte sich zusammen. Sie hoffte inständig, dass der Ortswechsel Anouk helfen würde, das Vergangene zu verarbeiten.
»Na, wenn das kein gutes Zeichen ist, Schatz«, wandte sie sich an ihre Tochter und bemühte sich um ein strahlendes Lächeln. »Soeben hat es aufgehört zu regnen. Wenn du Glück hast, wird’s noch ein sonniger Tag.«
Anouk zog gleichgültig die Achseln hoch, schulterte ihre Reisetasche und zog den Rollkoffer wie einen lahmen Hund hinter sich her.
»Tschüs, Mama«, sagte sie und hauchte ihrer Mutter einen Kuss auf die Wange. »Ich rufe dich an, sobald ich da bin.«
Der Intercity war nahezu leer. Im Abteil muffelte es nach getragenen Socken und verbrauchter Atemluft. Anouk verstaute ihre Reisetasche im Gepäckfach, schob den Koffer unter den Sitz und stöpselte die Kopfhörer ihres MP3-Players ein. Sie legte die Füße auf den freien Sitz gegenüber, ignorierte den missbilligenden Blick einer älteren Dame und schaute zum Abteilfenster hinaus. Der Ansturm der morgendlichen Pendler war vorüber. Obwohl nur wenige Reisende mit einem Lächeln auf den Lippen unterwegs waren, schienen die meisten doch glücklich zu sein. Oder jedenfalls zufrieden. Viele marschierten zielstrebig an ihr vorbei. Den Blick geradeaus, einen Aktenkoffer oder eine Mappe in der Hand. Einige mit einer Zeitung unter dem Arm, andere wiederum mit vollgepackten Rucksäcken und Bergschuhen an den Füßen. Eine Horde Schulkinder lief johlend vorüber. Anouk beneidete sie. Irgendjemand wartete auf sie, irgendwo würden sie vermisst werden, wenn sie nicht ankämen, irgendwer liebte sie. Und wer liebte Anouk? Sie biss sich auf die Lippen. Etwas Selbstmitleid gefällig?
Die vergangenen Jahre war sie von Termin zu Termin, von Location zu Location gehetzt. Manchmal hatte sie sich nicht einmal mehr daran erinnern können, in welchem Land sie sich gerade befand. Die Hotelzimmer sahen alle gleich aus. Lediglich an den Außentemperaturen und der jeweiligen Vegetation konnte sie ausmachen, ob sie in den Everglades oder vor einem Fjord posierte. Zeit für eine Partnerschaft blieb bei diesem Job nicht. Jetzt wäre es schön gewesen, einen vertrauten Menschen neben sich zu haben. Jemand, der sie in den Arm nehmen und ihr sagen würde, dass alles gut wird … irgendwann.
Anouk fummelte an ihrem MP3-Player herum, bis sie einen Rocksong fand. Die harte Musik vertrieb ihre melancholischen Gedanken. Sie wippte mit dem Kopf im Takt. Genau vor ihrem Abteilfenster stand ein Liebespaar und küsste sich. Das Mädchen erinnerte sie an Julia. Die gleiche blonde Lockenmähne, die gleiche zierliche Gestalt. Anouks Kehle wurde eng. Sie bekam plötzlich kaum noch Luft und keuchte. Die Frau schräg gegenüber griff nach ihrer Handtasche. Vermutlich dachte sie, Anouk sei drogensüchtig. Doch Drogen hatten sie nie interessiert. Ihre Mitreisende war anscheinend nicht der gleichen Meinung, denn sie raffte hastig ihre Sachen zusammen und setzte sich auf einen freien Platz neben den Ausgang.
Anouk konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Aus den Augenwinkeln sah sie immer noch die blonden Locken des küssenden Teenagers. Geschwind senkte sie den Kopf. Sie hätte sich gerne eine Zigarette angezündet, doch im Zug war das Rauchen untersagt, deshalb langte sie nach ihrer Handtasche und kramte darin herum, bis sie einen Kaugummi fand. Abrupt hielt sie inne, als sie die pinkfarbene Packung erkannte. Julias Lieblingskaugummi! Anouk schossen Tränen in die Augen. Mit einer schnellen Handbewegung wischte sie sie weg und zuckte zusammen. Die Wunde über ihrem linken Auge heilte gut ab, schmerzte aber immer noch. Es würde besser werden, hatten die Ärzte gesagt, sie könne auch sicher weiterhin als Model arbeiten. Nur müsse sie die kommenden Monate eine kaschierende Frisur tragen. Anouk verzog das Gesicht. Klar, ganz einfach. Alles vorbei und vergessen. Weitermachen, als wäre nichts gewesen.
AC/DC dröhnte in ihren Ohren. Hell’s Bells. Sie hatte sie gehört, die Höllenglocken. Sie hörte sie noch immer. Die Melodie bestand aus kreischenden Reifen, zersplitterndem Glas und krachendem Blech. Und sie wusste auch, wie die Hölle roch: nach verbranntem Gummi, Benzin
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