Die Frau in Rot: Roman (German Edition)
zweimal tief durch, und der Kloß in ihrem Hals wurde kleiner.
Der Therapeut hatte sie vor der Überlebenden-Falle gewarnt. Es sei sinnlos, hatte er gesagt, sich ständig Vorwürfe zu machen. Ihre Schuldgefühle würden ihre Freundin auch nicht wieder lebendig machen. Der hatte gut reden!
Anouk schloss das Fenster, kramte in ihrer Handtasche nach einem Gummiband und fasste ihre Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen. Sie betrachtete ihren Koffer und die Reisetasche. Das Auspacken konnte warten, jetzt wollte sie zuallererst einmal wissen, wie man mit Ameisen sprach.
»Du wurdest also dazu abkommandiert, der Verrückten so lange Gesellschaft zu leisten, bis man sie ins Heim abschieben kann.«
Valerie Morlot rührte in ihrer Teetasse und sah Anouk herausfordernd an. Diese verschluckte sich an einem Haselnusskeks und begann zu husten. Ihre Großtante war schon immer sehr direkt gewesen und hasste jede Art von Scheinheiligkeit; deshalb hielt sie es für besser, erst gar nicht nach einer Ausrede zu suchen.
»Tati«, fing sie an und räusperte sich, »keiner hält dich für verrückt. Es ist nur … also, wir haben uns gedacht … weil ich doch …«
Sie brach ab. Wie sollte sie ihrer Großtante den Beschluss des Familienrats erklären, wenn sie doch selbst nicht von ihm überzeugt war?
»Schau«, begann sie von neuem, »mir geht’s im Moment nicht so gut. Meine Agentur hat alle meine Termine abgesagt. Ich nehme mir quasi eine Auszeit.« Sie atmete tief durch. »Im Loft halte ich es nicht mehr aus, bei meinen Eltern noch viel weniger. Die behandeln mich wie eine Zehnjährige. Ich musste mal raus aus Zürich. Und wenn ich hier bei dir bin, schlagen wir doch zwei Fliegen mit einer Klappe. Ich kann dir zur Hand gehen und habe Zeit, mir über einige Dinge klar zu werden.« Sie griff über den Tisch und legte ihrer Großtante die Hand auf den Arm. »Du weißt doch, wie lieb ich dich habe und wie gerne ich bei dir bin. Können wir diese paar Wochen nicht zusammen genießen?«
Valerie schürzte die Lippen, gab vier Löffel Zucker in ihre Teetasse, nahm einen Schluck und verzog den Mund.
»Ist schon gut, Kleine. Manchmal tue ich eben Dinge, die anderen komisch vorkommen und vermutlich nicht als normal gelten. Was auch immer normal sein mag.« Sie lachte. »Aber ich bin nicht senil. Wenn wir also für eine Weile zusammenleben wollen, bitte ich dich, mich nicht wie eine Schwachsinnige zu behandeln. Keine arrangierten Kaffeekränzchen, keine Bingoabende im Gemeindehaus, keine Altersausflüge nach Hintertupfingen. Und was ich mir ausdrücklich verbitte, keine Besuche irgendwelcher frömmelnden Pfaffen, die mein Seelenheil retten wollen.«
Anouk verbiss sich ein Lachen. »Auf keinen Fall, Tati!«, versicherte sie ihrer Großtante, und diese nickte zufrieden.
»Gut, dann also herzlich willkommen!«
Valerie lächelte, und Anouk bemerkte wieder einmal, wie schön ihre Großtante immer noch war. Trotz ihres hohen Alters blickten ihre grünen Augen, die alle weiblichen Familienmitglieder der Morlots geerbt hatten, neugierig in die Welt. Ihr Gesicht wies kaum Falten auf. Lediglich am Hals und an den Händen konnte man ihr wahres Alter erahnen.
Anouks Großtante griff nach einem Keks, prüfte die Konsistenz des Gebäcks und legte es wieder auf den Teller zurück. Sie schaute zur Standuhr in der Ecke und hob die Augenbrauen.
»Oh, ich muss mich umziehen. Doktor Sandmeier hat versprochen, heute noch vorbeizukommen. Kennst du ihn?«
Anouk schüttelte den Kopf. Obwohl der Arzt zusammen mit ihrer Familie den Umzug Valeries in die Wege geleitet hatte, waren sie sich noch nie persönlich begegnet. Sie war zu dieser Zeit noch im Krankenhaus gewesen, und so hatten sich ihre Eltern allein mit dem Hausarzt ihrer Großtante getroffen.
»Du solltest ihn kennenlernen. Er ist nett«, sagte Valerie und stand auf. »Und unverheiratet«, fügte sie mit einem verschmitzten Lächeln hinzu.
Anouk seufzte. »Danke, Tati, aber mir steht der Sinn nicht nach Männerbekanntschaften.« Sie erhob sich ebenfalls und räumte das Teegeschirr in die Küche. »Ich werde einen Spaziergang machen, wenn du erlaubst.«
Ihre Großtante wedelte mit der Hand, und Anouk fühlte sich entlassen. Sie ging die Treppe hinauf, öffnete ihren Koffer und nahm ihren Kulturbeutel heraus. Dann stellte sie sich unter die Dusche, die nach einem kurzen asthmatischen Röcheln heißes Wasser ausspuckte.
Ein Wagen stoppte vor dem Haus. Das musste der Doktor sein. Anouk zog sich
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