Die Frau in Rot: Roman (German Edition)
das hochwohlgeborene Fräulein mir bitte folgen möchte?«
Er verbeugte sich und wies mit dem Arm auf ein flaches Gebäude, das sich neben dem Eingang an die Schlossmauer schmiegte.
Ob Johannes sie in dieser Kate erwartete? Bernhardines Puls beschleunigte sich bei dem Gedanken. Sie nickte, raffte ihr Kleid und ging auf das Häuschen zu.
Die Wohnräume des Schlossherrn lagen im hinteren Teil der Anlage. Ein Mädchen mit blonden Zöpfen, das kaum älter als zehn Jahre alt sein konnte, geleitete Bernhardine über eine gemauerte Steinbrücke. Unter dem Steg gurgelte das dunkle Wasser des Aabachs. Die Zimmer der Herrschaft befanden sich im Palas. Eine Wendeltreppe führte ins Obergeschoss hinauf. Danach ging es einen schmalen Gang entlang bis zu einer Holztür mit Eisenbeschlägen. Ihr Gemach war auf den ersten Blick nicht unzumutbar, bot aber bei weitem nicht die Annehmlichkeiten, die Bernhardine von ihrem Elternhaus her gewohnt war.
In einer Ecke stand ein Eisenbett, über dem sich ein Baldachin aus weißem Damast spannte. Eine schlichte Holztruhe, ein Stuhl mit gepolsterter Rückenlehne und eine Kommode, auf der sich das Waschgeschirr befand, waren die einzigen Einrichtungsgegenstände. Die Wände zierte eine vergilbte Tapete mit Rosenranken. Der Fußboden bestand aus hellen und dunklen Holzpaneelen, die durch das jahrelange Scheuern zwar jeden Glanz verloren hatten, sich aber zu einem hübschen Karomuster zusammenfügten.
Bernhardine fröstelte trotz des warmen Luftzuges, der durch das geöffnete Fenster hereinströmte. Sie würde nach der Vermählung in das Zimmer ihres Gatten umziehen. Die Aussicht, mit einem alten Mann das Bett teilen zu müssen, verursachte ihr Bauchschmerzen. Ihre Mutter hatte ihr diesbezüglich ein paar Ratschläge erteilt, die sie mehr oder minder hatte nachvollziehen können. Was die Freiherrin jedoch mit »dem Fluch des Ehebettes« gemeint hatte, war ihr nicht klar geworden.
Bernhardine öffnete eine unscheinbare Tür neben dem Bett und rümpfte die Nase. Der Abort stank abscheulich. Sie hielt sich die Hand vor die Nase und schloss den Zugang schnell wieder, dabei stieß sie mit dem Fuß an ein kleines, schwarzes Päckchen. Sie hob es auf. Es war mit einem einfachen Bindfaden verschnürt. Als sie es öffnete, fiel eine tote Fliege heraus, die in Spinnweben eingewickelt war. Mit einem Laut des Abscheus warf sie die Kreatur in den Abort. Schon das zweite tote Tier seit ihrer Ankunft. Was wohl als Nächstes käme? Ein kopfloser Reiter?
Aufgeregte Stimmen im Nebenzimmer erregten ihre Aufmerksamkeit. Marie hatte man in einem Kabuff neben ihrem Zimmer untergebracht. Sie hörte, wie sich die Amme lauthals mit dem blonden Mädchen stritt.
Bernhardine schmunzelte, setzte ihren Hut ab und warf ihn achtlos auf den Stuhl. Sie trat ans offene Fenster, steckte vorsichtig den Kopf hinaus, damit ihre Perücke nicht verrutschte, und spähte in den Schlosshof hinunter. Dort eilte gerade eine Magd mit einem Huhn unter dem Arm über das Steinpflaster und verschwand in einem Nebengebäude. Vermutlich war in diesem die Küche untergebracht, denn eine dünne Rauchfahne stieg aus einem Loch seines Daches in den blassen Abendhimmel hinauf. Der Duft von Gebratenem und Weißkohl stieg Bernhardine in die Nase, und ihr Magen begann, vernehmlich zu knurren.
Beim Willkommenstrunk hatte der Meier verlauten lassen, dass Johannes noch auf der Jagd sei und bei seiner Rückkehr sicher untröstlich darüber wäre, die Ankunft seiner Braut verpasst zu haben.
Bernhardine schnaubte. Ein Affront sondergleichen! Sie setzte sich aufs Bett, kramte in ihrem Beutel und zog ein nicht mehr ganz sauberes Taschentuch hervor, in dem sie ein »Schäfli« versteckt hatte. Das süße Lebkuchengebäck in der Form eines Schafes hatte ihr der Vater aus dem Kloster Einsiedeln mitgebracht. Von dieser unseligen Reise, auf der er den Hallwyler kennengelernt hatte. Der Lebkuchen war zwar in der Zwischenzeit steinhart geworden, doch immerhin schmolz er nicht in der Hitze.
Gedankenverloren knabberte sie an der gewürzten Köstlichkeit, die nach Anis, Kardamom und Nelken duftete, als an die Verbindungstür gehämmert wurde. Marie platzte ins Zimmer. Ihr Gesicht war gerötet, und ihre dunklen Knopfaugen funkelten vor Zorn.
»Das glaub ich nicht!«, fing die Amme an zu wettern und stemmte beide Hände in die Hüften. »Sagt mir das Gör doch, dass ich später ins Gesindehaus ziehen muss, wenn die Herrschaften geheiratet haben. Das lässt du doch
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