Die Frau in Schwarz
Umschlag mit den Papieren, der auf dem Sitz neben mir lag.
Ich nickte steif.
»Sie wollen doch nicht behaupten, dass Sie ein Verwandter sind?«
»Nein, ich bin ihr Anwalt.« Wie das klang! Wunderbar.
»Ah! Sie wollen zur Beerdigung?«
»Ja.«
»Sie werden so ziemlich der Einzige dort sein.«
Ich spürte, wie gegen meinen Willen der Wunsch in mir wuchs, mehr über die Sache zu erfahren, und offenbar wusste mein Reisegefährte auch etwas.
»Ich vermute, sie hatte keine Freunde – oder nähere Familie? Wie ich hörte, hat sie sehr abgeschieden gelebt. Nun, das ist bei alten Damen nicht ungewöhnlich. Sie ziehen sich in sich zurück – werden exzentrisch. Ich vermute, das kommt vom Alleinleben.«
»Ganz meine Meinung, Mr. …?«
»Kipps. Arthur Kipps.«
»Samuel Daily.«
Wir nickten.
»Und wenn man an einem solchen Ort allein lebt, ist es noch wahrscheinlicher.«
»Na«, sagte ich lächelnd, »Sie werden doch nicht anfangen, seltsame Geschichten über einsame Häuser zu erzählen?«
Er schaute mich an.
»Nein«, entgegnete er schließlich. »Das werde ich nicht.«
Aus irgendeinem Grund schauderte ich, umso mehr, weil sein Blick so offen und sein Benehmen so direkt war. »Es ist traurig, wenn jemand siebenundachtzig Jahre gelebt hat und nicht einmal ein paar Freunde zur Beerdigung kommen«, bemerkte ich und wischte mit der Hand über die Fensterscheibe, um in der Dunkelheit draußen etwas erkennen zu können. Wir hatten offenbar auf freiem Feld gehalten und bekamen die ganze Wucht des Windes ab. »Wie weit ist es noch?« Ich bemühte mich, gleichmütig zu klingen, empfand jedoch ein beklemmendes Gefühl, so fernab jeglicher menschlichen Behausung in dieser kalten Gruft eines Eisenbahnabteils mit seinem fast blinden Spiegel und der fleckigen Täfelung aus dunklem Holz.
Mr. Daily holte seine Uhr hervor. »Noch zwanzig Minuten. Wir müssen hier warten, bis der Gegenzug aus dem Gapemouth Tunnel, dem sogenannten Klaffmaultunnel, kommt. Der Berg, durch den er führt, ist die letzte Erhebung. Dann sind Sie im Flachland, Mr. Kipps.«
»Und es scheint, im Land recht seltsamer Ortsnamen. Heute Morgen hörte ich von dem sogenannten Neunlebendamm und der Aalmarsch, und jetzt vom Klaffmaultunnel.«
»Es ist ein abgeschiedenes Fleckchen Erde. Es verirren sich nicht viele Fremde hierher.«
»Wahrscheinlich, weil es so gut wie nichts zu sehen gibt.«
»Das kommt darauf an, was Sie unter ›nichts‹ verstehen. Es gibt die untergegangenen Kirchen und die vom Meer verschlungene Ortschaft.« Er schmunzelte. »Das sind die besonders guten Beispiele für ›nichts zu sehen‹. Und wir haben die überwucherte Ruine eines Klosters mit einem schönen Friedhof – bei Ebbe gelangt man dorthin. Es kommt eben ganz darauf an, was man sich gern ansieht.«
»Sie schaffen es noch, dass ich mich nach dem Londoner Nebel sehne!«
Die Lokomotive pfiff schrill.
»Da ist er!«
Der Gegenzug, der von Crythin Gifford nach Homerby fuhr, kam aus dem Gapemouth Tunnel und ratterte mit leeren, gelb beleuchteten Wagen an uns vorbei. Als er in der Dunkelheit verschwand, fuhr unser Zug weiter.
»Aber Sie werden alles recht heimelig finden in Crythin, obwohl es ein einfacher kleiner Ort ist. Wir stellen uns mit dem Rücken zum Wind und gehen unserem Tagwerk nach. Wenn Sie mit mir kommen möchten, ich kann Sie im GIFFORD ARMS absetzen. Mein Wagen wird mich erwarten, und es liegt auf dem Weg.«
Er schien mich beruhigen und seine spöttische Übertreibung über die Düsternis und Fremdartigkeit der Gegend wiedergutmachen zu wollen. Ich bedankte mich und nahm sein Angebot gerne an. Dann beschäftigten wir uns während der letzten Kilometer dieser ermüdenden Fahrt wieder mit unserer Lektüre.
Mrs. Drablows Beerdigung
M ein erster Eindruck von der kleinen Ortschaft Crythin Gifford war ausgesprochen erfreulich. Als wir in jener Nacht ankamen, brachte uns Mr. Dailys Automobil – ein auf Hochglanz poliertes, geräumiges Fahrzeug mit allen nur erdenklichen Bequemlichkeiten – die etwa eineinhalb Kilometer von dem winzigen Bahnhof zum Marktplatz, wo es vor dem GIFFORD ARMS anhielt.
Als ich mich daranmachte auszusteigen, gab mir Mr. Daily seine Karte. »Sollten Sie jemanden brauchen …«
Ich dankte ihm, betonte jedoch, dass ich das für höchst unwahrscheinlich hielte, da der hiesige Vertreter mit jeglicher sachdienlichen Hilfe aufwarten würde, die ich benötigte, um Mrs. Drablows Hinterlassenschaft zu ordnen, und ich außerdem
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