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Die Frau in Schwarz

Die Frau in Schwarz

Titel: Die Frau in Schwarz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susan Hill
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windabgewandten Seite gebeugt, trugen noch die letzten roten und goldenen Blätter. Ich aber stellte mir vor, wie grau und düster dieses winzige Städtchen im Regen und Nebel war, wie die Stürme, die über das offene Land tobten, tagelang an ihm rüttelten, und wie Schneestürme es völlig von der Außenwelt abschnitten. Am Morgen hatte ich mir noch einmal die Karte angesehen. Im Norden, Süden und Westen umgab kilometerweit ländliche Einsamkeit Crythin Gifford – bis Homerby, der nächsten nennenswerten Ortschaft, waren es zwanzig Kilometer, fünfzig bis zu einer größeren Stadt südlich davon, und die nächste kleine Ortschaft lag etwa zwölf Kilometer entfernt. Im Osten gab es nur Marschen, die Flussmündung und dann die See. Länger als einen oder zwei Tage würde ich das nicht ertragen, aber als ich zum Marktplatz zurückspazierte, fühlte ich mich sehr wohl und war zufrieden, was wohl vor allem an dem schönen Wetter lag und an meiner Faszination von allem, was ich sah.

    Als ich ins Gasthaus zurückkam, fand ich ein paar Zeilen von Mr. Jerome, dem Vertreter, der sich um Mrs. Drablows Geschäfte gekümmert hatte, soweit sie ihre Immobilien betrafen, und der mich zur Beerdigung begleiten sollte. Höflich, mit gestochener Schrift, teilte er mir mit, dass er um zehn Uhr vierzig wiederkommen und mich zum Trauergottesdienst abholen würde. So setzte ich mich bis dahin an das Fenster der Gaststube, las die Tageszeitung und beobachtete die Vorbereitungen auf dem Marktplatz. Auch im Gasthof herrschte reger Betrieb, wohl wegen der bevorstehenden Versteigerung, wie ich annahm. Wenn die Tür hin und wieder aufschwang, zog köstlicher Geruch aus der Küche herein. Der Duft von brutzelndem Braten, frischem Brot und Feingebäck regte meinen Appetit an. Und aus dem Esszimmer war das Klappern von Geschirr zu hören. Gegen zehn Uhr fünfzehn fanden sich draußen vor dem Eingang wohlhabend wirkende Bauern in Tweedanzügen ein, die einander begrüßten, die Hände schüttelten und zunickten.
    Ich bedauerte, dass ich nicht länger hierbleiben konnte. Ich trug meinen dunklen Anzug und Mantel, eine dunkle Krawatte und ein schwarzes Band um den Ärmel und hielt meinen schwarzen Hut in der Hand, als Mr. Jerome eintraf. Ich erkannte ihn sofort, denn er war genauso dunkel gekleidet wie ich. Wir gaben uns die Hand und traten auf die Straße. Während ich einen Augenblick so dastand und über das bunte lebhafte Treiben vor uns blickte, kam ich mir wie ein Geist bei einem fröhlichen Fest vor und fand, dass wir unter den Menschen in ihrer Arbeits- oder Alltagskleidung wie ein Paar finstere Raben aussahen. Das war offensichtlich auch der Eindruck, den wir auf alle machten, die uns sahen. Während wir den Marktplatz überquerten, richteten sich unbehagliche Blicke auf uns, die Leute wichen ein wenig zurück und verstummten mitten im Gespräch, so dass ich mich wie ein Aussätziger fühlte. Deshalb war ich froh, als wir eine der stillen Straßen erreichten, die, wie Mr. Jerome mir versicherte, geradewegs zur Kirche führte.
    Er war ein sehr kleiner Mann, höchstens eins fünfundfünfzig groß, und hatte einen ungewöhnlich gewölbten Kopf mit rötlichem Haarkranz, der mich unwillkürlich an die Fransen eines Lampenschirms erinnerte. Er mochte zwischen fünfunddreißig und siebenundfünfzig Jahre sein, genauer ließ sich sein Alter nicht bestimmen. Sein Benehmen war freundlich und förmlich zugleich, und seine Miene verriet nichts von seiner Persönlichkeit, seiner Stimmung, seinen Gedanken. Er war höflich, sachlich und konnte mit Worten umgehen, biederte sich jedoch in keiner Weise an. Er erkundigte sich, wie die Reise gewesen, ob ich im GIFFORD ARMS gut untergebracht sei, nach Mr. Bentley, dem Londoner Wetter, nannte mir den Namen des Geistlichen, der die Trauerrede halten würde, zählte die Immobilien auf – sechs –, die Mrs. Drablow hier und in der näheren Umgebung gehört hatten. Und doch erzählte er mir nichts Persönliches, nichts wirklich Aufschlussreiches, nichts sonderlich Interessantes.
    »Ich nehme an, sie wird auf dem hiesigen Friedhof beerdigt?«, fragte ich.
    Mr. Jerome blickte mich von der Seite an, und mir fiel auf, dass er sehr große, leicht hervorstehende, blasse Augen hatte, deren Blaugrau mich an Möweneier erinnerte.
    »So ist es«, bestätigte er.
    »Gibt es eine Familiengrabstätte?«
    Er schwieg für einen Augenblick und blickte mich scharf an, als versuche er zu ergründen, ob hinter meiner

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