Die Frau in Schwarz
waren als wir Kosmopoliten. Zweifellos wurde an einem Ort wie diesem, mit seinen unheimlichen Marschen, dem unerwartet auftretenden Nebel, dem heulenden Wind und den einsamen Häusern, jede arme alte Frau schief angesehen.
Früher wäre sie wahrscheinlich sogar als Hexe verurteilt worden, und lokale Sagen und Geschichten wurden hier sicherlich immer noch weitergegeben und irgendwo tief im Herzen geglaubt, auch wenn man es nicht zugeben würde.
Es stimmte, dass sowohl Mr. Daily als auch der Wirt Männer mit gesundem Menschenverstand zu sein schienen, und ich musste zugeben, dass beide nichts anderes getan hatten, als zu verstummen und mich eingehend und ein wenig merkwürdig anzusehen, als das Thema Mrs. Drablow zur Sprache kam. Doch sie hatten mir auch das Gefühl gegeben, dass Wichtiges ungesagt geblieben war.
Im Großen und Ganzen neigte ich in jener Nacht dazu – schließlich hatte ich den Bauch voll köstlichem, von der Wirtin selbstgekochtem Essen, war angenehm schläfrig vom guten Wein, dem wärmenden Feuer im Kamin und der einladend zurückgeschlagenen Bettdecke –, die Angelegenheit als willkommene und erfrischende Bereicherung zu sehen, verlieh sie meinem Auftrag doch ein wenig Würze und Lokalkolorit. Und so schlief ich friedlich ein. Ich erinnere mich sogar an das Gefühl, sanft in den Schlaf zu gleiten, warm, weich, glücklich und geborgen wie ein Säugling in der Wiege. Als ich am Morgen erwachte, spielte winterlicher Sonnenschein auf der schrägen Zimmerdecke, und ich fühlte mich leicht und frisch. Vielleicht erinnere ich mich an diese Empfindungen so deutlich, weil sie ein so großer Gegensatz zu jenen waren, die bald folgten. Hätte ich gewusst, dass meine sorgenfreie Nacht wohltuenden Schlafs die letzte dieser Art vor so vielen schrecklichen, quälenden und nahezu schlaflosen sein sollte, wäre ich vielleicht nicht so unternehmungslustig aus dem Bett gesprungen, voll Eifer, zum Frühstück hinunterzugehen und mich dann an die Arbeit zu machen.
Tatsächlich glaube ich nicht, jemals so gut geschlafen zu haben wie in jener Nacht im Gasthaus GIFFORD ARMS in Crythin Gifford – und das, obwohl ich so glücklich und zufrieden mit meiner geliebten Ehefrau Esmé in Monk’s Piece bin, wie viele es sich nur erhoffen können, und obwohl ich dem lieben Gott jede Nacht danke, dass es vorüber, lange schon vorbei ist und nicht wiederkommen wird und kann. Denn jetzt erkenne ich, wie arglos ich damals doch war und dass diese Arglosigkeit, einmal verloren, für immer fort ist.
Der strahlende Sonnenschein, der mein Zimmer erhellte, als ich den geblümten Vorhang zurückzog, war kein flüchtiger Frühmorgenbesucher. Im Gegensatz zum Londoner Nebel und dem Wind und Regen von gestern Abend hatte sich das Wetter völlig geändert, wie Mr. Daily so zuversichtlich vorhergesagt hatte.
Obwohl es Anfang November und ich hier in einem kalten Winkel Englands war, war die Luft frisch und klar und der Himmel blau. Die Häuser, zum größten Teil aus Backstein und ziemlich düsterem Schiefer gebaut, standen niedrig und eng beisammen. Ich schlenderte herum und begutachtete, wie das Städtchen angelegt war: Mehrere gerade, schmale Straßen führten in alle Richtungen von dem großen Marktplatz weg, an dem das GIFFORD ARMS stand und der sich jetzt mit Pferchen und Buden, Ständen, Karren und Leiterwagen füllte. Von allen Seiten riefen die arbeitenden Männer einander zu, während sie an Behelfszäunen hämmerten, Segeltuch als Markisen über Stände zogen, Schubkarren über das Kopfsteinpflaster schoben. Es war ein erfreulicher Anblick, den ich genoss und in mich aufnahm, während ich herumwanderte. Aber als ich dem Markt den Rücken zuwandte und einem ungepflasterten Weg folgte, hörte ich plötzlich nichts mehr von all der Betriebsamkeit – nur noch meine Schritte vor den stillen Häusern. Nirgendwo schien es hier auch nur die kleinste Erhebung, den sanftesten Hang zu geben. Crythin Gifford war vollkommen flach. Als ich ans Ende einer der engen Straßen gelangte, lag offenes Land vor mir. Acker um Acker bis zum hellen Horizont. Und da verstand ich, was Mr. Daily gemeint hatte, als er gesagt hatte, dass sich die Stadt mit dem Rücken in den Wind stellte: denn alles, was man hier von ihr sehen konnte, waren die Rückseiten der Wohnhäuser und Läden und der öffentlichen Gebäude am Platz.
Der herbstliche Vormittagssonnenschein brachte einen Hauch Wärme mit sich, und die paar Bäume, die ich sah, alle zur
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