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Die Frau in Schwarz

Die Frau in Schwarz

Titel: Die Frau in Schwarz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susan Hill
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kehrt. Wir ließen den Kies hinter uns, fuhren durchs Gras, erreichten den Damm und begannen, ihn zu überqueren. Das Wasser der Flut zog sich stetig zurück, der Himmel war von eintönigem Grau, die Luft feucht und kalt, doch ruhig nach dem Sturm. Die Marschen ringsum lagen trostlos in leichtem Morgennebel, und voraus erstreckte sich die flache Landschaft nass und düster, farblos, kahl und reglos. Das Pferd trabte gleichmäßig und ruhig dahin, und Mr. Daily summte leise und ohne richtige Melodie vor sich hin. Ich befand mich in einem tranceartigen Zustand, benommen und ohne viel wahrzunehmen, außer der Bewegung des Einspänners und der unangenehm feuchtkalten Luft.
    Aber als wir die Landstraße erreichten und Marschen und Flussmündung hinter uns ließen, warf ich einen Blick zurück über die Schulter. Eel Marsh House ragte eisengrau und grimmig wie ein Felsen empor, die Fenster leer und verschlossen. Keine Spur von einer lebenden oder toten Seele. Ich glaubte, dass niemand uns nachblickte. Und dann klapperten die Pferdehufe auf dem Teerbelag der schmalen Straße zwischen den Gräben und Schlehdornhecken. Ich wandte die Augen von diesem schrecklichen Ort ab, zum letzten Mal, wie ich sehnlichst hoffte.

    Von dem Augenblick an, als ich in den Einspänner gestiegen war, hatte Mr. Daily mich so behutsam und voll Mitgefühl behandelt wie einen Invaliden, und seine Bemühungen, es mir bequem zu machen und dafür zu sorgen, dass ich mich wohl fühlte, verdoppelten sich noch, als wir bei ihm zu Hause ankamen. Ein Zimmer war für mich vorbereitet, ein großes, ruhiges Zimmer mit kleinem Balkon, der auf den Garten und die Wiesen dahinter blickte. Ein Diener wurde sogleich zum GIFFORD ARMS geschickt, um den Rest meiner Sachen zu holen, und nachdem man mir ein leichtes Frühstück gebracht hatte, ließ man mich den ganzen Vormittag schlafen. Spider wurde gebadet und gebürstet und dann zu mir geführt, »weil Sie sich an sie gewöhnt haben«. Sie lag zufrieden neben meinem Sessel und schien das schreckliche Erlebnis des frühen Morgens bereits zu vergessen.
    Ich ruhte mich aus, konnte jedoch nicht schlafen, dazu ging mir noch viel zu viel durch den Kopf, und meine Nerven waren angespannt. Ich war unendlich dankbar für den Frieden und die Ruhe, vor allem aber für die Gewissheit, dass sich, obgleich ich hier allein und ungestört war, Leute, viele Leute, im Haus unten und in den Nebengebäuden befanden, die ihrer täglichen Arbeit nachgingen. Gott sei Dank war ich zurück in der Realität, die ihren ganz gewöhnlichen Lauf nahm.
    Ich bemühte mich, nicht darüber nachzudenken, was passiert war. Daher schrieb ich einen zurückhaltenden Brief an Mr. Bentley und einen etwas ausführlicheren an Stella – doch weder ihm noch ihr erzählte ich alles, und schon gar nicht, wie sehr mich das Ganze mitgenommen hatte. Danach ging ich nach draußen, drehte ein paar Runden um die weitläufige Rasenfläche, kehrte aber schon bald in mein Zimmer zurück, weil die Luft unangenehm kalt war. Samuel Daily ließ sich nicht blicken. Danach döste ich etwa eine Stunde lang in meinem Sessel und konnte mich erstaunlicherweise, obwohl ich ein- oder zweimal in plötzlichem Schrecken hochfuhr, nach einer Weile doch entspannen und besser erholen, als ich erwartet hätte. Um ein Uhr klopfte ein Dienstmädchen an meine Tür und erkundigte sich, ob es mir das Mittagessen ins Zimmer bringen solle oder ob ich lieber ins Esszimmer hinunterkommen wolle.
    »Bitte richten Sie Mrs. Daily aus, dass ich in wenigen Minuten hinunterkomme.«
    Ich wusch mich, zog mich um, rief nach Spider und ging hinunter.
    Die Dailys waren die Aufmerksamkeit und Güte selbst und bestanden darauf, dass ich noch ein oder zwei Tage bei ihnen bliebe, ehe ich nach London zurückfuhr. Denn ich hatte beschlossen, zurückzukehren: Nichts auf der Welt hätte mich dazu bringen können, auch nur eine weitere Stunde in Eel Marsh House zu verweilen. Ich war so kühn gewesen, wie ein Mensch nur sein konnte, aber ich war geschlagen worden und hatte keine Angst, es zuzugeben, auch empfand ich deshalb keinerlei Verlegenheit. Ein Mensch mag feige genannt werden, wenn er vor körperlicher Gefahr davonläuft, doch wenn Übernatürliches und Unerklärliches nicht nur seine Sicherheit und sein Wohlbefinden bedroht, sondern auch seinen Verstand, seine Seele, dann ist ein Rückzug kein Zeichen der Schwäche, sondern die weiseste Entscheidung. Aber ich war trotzdem wütend, nicht auf mich, sondern

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