Das Buch der Schatten - Schwarze Seelen: Band 7 (German Edition)
Prolog
Ein Wolf – das Fell silbrig, die Zähne im Kerzenlicht schimmernd – trottet über einen dunklen, polierten Marmorboden zu einem Steintisch. Der Raum ist riesig, in Haltern an den Wänden flackern schwarze Kerzen. An der Decke prangen überladene Stuckverzierungen aus Ranken, Laub und Weintrauben. Ein Puma, unter dessen lohfarbenem Fell die Muskeln spielen, springt auf den Tisch zu, goldene Augen funkeln. Schwarze Vorhänge verdecken die hohen, schmalen Fenster. Ein Virginia-Uhu, Flügel und Klauen ausgestreckt, schwebt über dem Steintisch. Die Luft ist ranzig vom Gestank der Tiere. Eine Viper rollt sich auf dem Tisch zusammen, die Giftzähne entblößt. Ein Adler, ein riesiger Bär, ein Jaguar mit zuckendem Schwanz. Die Luft knistert vor schwarzer Magie. Auf einem Schrank aus Ebenholz steht ein kunstvoller silberner Kerzenständer mit schwarzen brennenden Kerzen. Ein Falke kreist. Ein Athame blitzt auf, der Griff mit einem einzelnen blutroten Rubin besetzt. Ein Schakal und ein Wiesel – beide gierig vor Hunger, genauso wie der Wolf. Sie alle rücken auf den großen, runden Steintisch vor, wo ein Wolfsjunges liegt, gefesselt, die Augen weit aufgerissen vor Entsetzen, am ganzen Leib zitternd. Eine Kerze nach der anderen geht tropfend aus. Die Dunkelheit verdichtet sich zu einer allumfassenden Schwärze. Und das Wolfsjunge heult.
Mit hämmerndem Herzen schoss ich senkrecht hoch. Ich hatte immer noch das Echo der gequälten Schreie des Wolfsjungen im Ohr und die Dunkelheit um mich herum… war nur die Dunkelheit meines nächtlichen Schlafzimmers. Ich war in meinem Zimmer, doch der Traum war noch in mir– lebendig, intensiv und furchterregend.
Hunter, ich brauche dich! Ohne lange zu überlegen, schickte ich meinem Freund Hunter eine magische Botschaft.
Seine Antwort kam prompt: Bin unterwegs.
Ich sah auf den Wecker. Es war kurz nach drei, mitten in der Nacht. Ich tappte in meinem Flanellschlafanzug nach unten, um auf Hunter zu warten.
Er brauchte nur zehn Minuten, um herzukommen, auch wenn sie mir wie zehn Stunden vorkamen, während derer ich nervös im Wohnzimmer auf und ab ging. Der Albtraum wollte einfach nicht verblassen. Er war immer noch präsent, als müsste ich nur die Augen schließen, und schon wäre ich wieder mitten drin.
Als ich spürte, dass Hunter sich näherte, mit knirschenden Schritten über den verkrusteten Schnee auf dem Rasen, sah ich aus dem Fenster. Seine hellblonden Haare standen ihm in alle Richtungen ab, und mithilfe meiner magischen Sehkraft erkannte ich die rosafarbenen Flecken, die der kalte Wind auf sein blasses, kantiges Gesicht getupft hatte.
» Was ist passiert?«, fragte er ohne Einleitung, sobald ich die Tür öffnete.
» Ich hatte einen Traum.« Ich zog ihn herein, öffnete seinen Mantel und vergrub das Gesicht an dem weichen Pullover über seiner Brust.
Er strich mir die Haare aus der Stirn. » Erzähl.«
Um meine Familie nicht zu wecken, berichtete ich ihm im Flüsterton von dem Traum, umfangen von seinen Armen. Während ich sprach, schienen die Traumbilder in der Luft um mich zu schweben, der geifernde Wolf, die suchenden gelben Augen der Eule. Ich wollte mich vor diesen gelben Augen verstecken; sie sollten aufhören, mich zu jagen.
Hör auf. Es ist doch nicht real, sagte ich mir.
» Ich weiß nicht, warum es mir so viel Angst gemacht hat«, fügte ich lahm hinzu, als ich Hunter alles erzählt hatte. » Es war nur ein Traum. Und ich selbst bin nicht mal darin vorgekommen.«
Doch Hunter sagte nicht die tröstlichen Dinge, die Menschen in so einer Situation normalerweise sagten. Er schwieg einen Augenblick und tippte mit dem Finger sanft auf meine Schulter. » Ich denke, ich sollte dem Rat davon berichten«, meinte er schließlich.
Mein Herz zog sich zusammen. » Dem Rat? Glaubst du, es ist so bedeutsam?«
Er schüttelte den Kopf, seine grünen Augen waren ernst. » Ich weiß nicht. Ich habe keine Erfahrung mit der Interpretation von Träumen. Aber in dem Traum gibt es Sachen, die mir Sorgen bereiten… große Sorgen.«
Ich schluckte. » Oh«, sagte ich leise.
» Morgan?«, war von oben die verschlafene Stimme meines Vaters zu hören. » Bist du da unten? Wieso bist du um diese Zeit wach?«
Ich drehte mich schnell um. » Ich hol mir nur was zu trinken«, rief ich. » Geh wieder schlafen, Dad.«
» Du auch«, murmelte er.
Hunter und ich sahen einander an.
» Ich ruf dich an«, flüsterte er.
Ich sah ihm hinterher, wie er in der Dunkelheit verschwand.
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