Die Frau in Schwarz
auf das, was in Eel Marsh House sein Unwesen trieb, wütend auf das wilde und sinnlose Benehmen dieses ruhelosen Wesens, und wütend, weil sie mich daran gehindert hatte – wie sie es zweifellos bei jedem anderen ebenfalls täte –, meine Arbeit zu Ende zu bringen. Vielleicht ärgerte ich mich auch, weil diese Leute – Mr. Jerome, Keckwick, der Wirt, Samuel Daily – recht behalten hatten. Ich war jung und arrogant genug, um mich in meinem Stolz verletzt zu fühlen. Ich hatte eine bittere Lektion erhalten. An diesem Nachmittag, als ich nach einem ausgezeichneten Mittagessen wieder mir selbst überlassen war – Mr. Daily war zu einem seiner etwas entlegeneren Höfe gefahren –, holte ich das Bündel Briefe hervor, das ich von Mrs. Drablows Papieren mitgebracht hatte. Die Geschichte, die ich mir beim erstmaligen Lesen zusammengestückelt hatte, beschäftigte mich immer noch, und ich beabsichtigte, mich mit dem Versuch abzulenken, das Puzzle ganz zusammenzusetzen. Die Schwierigkeit war natürlich, dass ich nicht wusste, um wen es sich bei der jungen Frau handelte – J für Jennet, die diese Briefe geschrieben hatte –, war sie eine Verwandte von Mrs. Drablow oder ihres Ehemanns, oder lediglich eine gute Bekannte? Ich hielt es für das Wahrscheinlichste, dass nur eine Blutsverwandte ihr uneheliches Kind einer anderen Frau – so wie die Briefe und Dokumente es verrieten – zur Adoption gegeben hätte, oder vielmehr dazu gezwungen worden war.
Als ich die kurzen, so leidenschaftlichen Briefe dieser J. noch einmal las, tat sie mir leid. Ihre verzweifelte Liebe zu ihrem Kind und ihre Verstoßung deswegen. Ihr Zorn und die Art, wie sie zunächst bitter kämpfte und schließlich todunglücklich auf den Vorschlag einging, der schon mehr ein Befehl war, erfüllten mich mit Traurigkeit und Mitgefühl. Einer ledigen Mutter der unteren Klasse, die in einer eng verbundenen Gemeinschaft lebte, wäre es damals, vor etwa sechzig Jahren, vermutlich besser ergangen als dieser Tochter aus gutem Haus, die so gnadenlos behandelt wurde und über deren Gefühle man sich so herzlos hinwegsetzte. Aber ich wusste auch, dass Dienstmägde im viktorianischen England häufig dazu getrieben worden waren, ihre unehelichen Kinder zu töten oder auszusetzen. Jennet hatte wenigstens gewusst, dass ihr Sohn lebte und ein gutes Zuhause bekommen hatte.
Als Nächstes öffnete ich die Dokumente, die sich mit den Briefen in dem Bündel befunden hatten. Es waren drei Sterbeurkunden. Die oberste war die eines Jungen, Nathaniel Drablow, Todesursache: Ertrinken im Alter von sechs Jahren. Die nächste, mit genau demselben Datum, war die von Rose Judd, die ebenfalls ertrunken war. Eine schreckliche, würgende Kälte regte sich in meinem Magen, stieg durch meine Brust zum Hals hinauf, und ich war überzeugt davon, mich entweder übergeben oder ersticken zu müssen. Doch es geschah weder das eine noch das andere. Ich stand auf und lief erregt und verstört, mit den beiden Urkunden in der Hand, im Zimmer herum.
Nach einer Weile zwang ich mich, auch das dritte Dokument anzusehen. Es war ebenfalls eine Sterbeurkunde, aber mit einem späteren Datum – nicht ganz zwölf Jahre nach den beiden anderen. Es war das der ledigen Jennet Eliza Humfrye. Als Todesursache war nur »Herzversagen« im Alter von sechsunddreißig Jahren angegeben. Ich ließ mich in den Sessel fallen, war aber zu unruhig, um lange sitzen zu bleiben. Schließlich rief ich Spider und ging mit ihr hinaus in den Novembernachmittag, der bereits früh zu dämmern begann. Ich lief aus Mr. Dailys Haus und Garten hinaus, vorbei an Scheunen und Ställen und Schuppen und über Stoppelfelder. Allmählich kam ich zur Ruhe, umgeben von Feldern, gepflügten Äckern mit ihren Furchenreihen, niedrigen Hecken und einigen Ulmen, in deren kahlen Ästen Krähennester zu sehen waren, von denen diese hässlichen schwarzen Vögel dann und wann in kreischenden Scharen aufstiegen und Kreise in dem bleigrauen Himmel zogen. Ein kalter Wind blies über die Felder und peitschte schwere Regentropfen vor sich her. Spider schien sich über den Spaziergang zu freuen.
Während ich vor mich hinwanderte, richteten sich meine Gedanken ganz auf die Unterlagen, die ich eben studiert hatte, auf die Geschichte, die sie erzählten und die sich nun klar und vollständig vor meinem geistigen Auge ausbreitete. Ich war, mehr oder weniger durch Zufall, auf die Identität der Frau in Schwarz gestoßen und hatte zugleich
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