Die Frau in Schwarz
dem seine Zuneigung zu ihr wuchs, nahm die zu Alice Drablow ab. Jennet plante, ihn wegzubringen – so viel weiß ich. Doch ehe sie dazu kam, geschah der Unfall, genau wie Sie es gehört haben. Der Junge … sein Kindermädchen, der Pferdewagen und sein Kutscher … Keckwick.«
»Keckwick?«
»Ja, sein Vater. Und auch der Hund des Jungen. Es ist ein tückischer Ort, wie Sie am eigenen Leib erfahren haben. Nebelschwaden ziehen urplötzlich von der See über die Marschen und verbergen den Schwemmsand.«
»Und so sind sie alle ertrunken.«
»Und Jennet hat es miterlebt. Sie befand sich im Haus, hielt von einem Zimmer im ersten Stock Ausschau nach ihnen, als sie auf ihre Rückkehr wartete.«
Ich sog entsetzt den Atem ein.
»Die Leichen wurden geborgen, den Pferdewagen ließen sie, wo er war, der Schlamm hielt ihn fest. Von diesem Tag an verfiel Jennet Humfrye dem Wahnsinn.«
»Kein Wunder.«
»Stimmt. Sie wurde wahnsinnig vor Leid und wahnsinnig vor Wut und Rachsucht. Sie gab ihrer Schwester die Schuld, weil sie den Jungen an jenem Tag hatte ausfahren lassen. Es war aber niemandes Schuld. Der Nebel zieht völlig unvermittelt auf.«
»Aus heiterem Himmel.«
»Ob durch die Trauer über ihren Verlust oder ihren Wahnsinn oder weiß Gott was, jedenfalls wurde sie von einer Krankheit befallen, die sie auszehrte. Das Fleisch schwand von ihren Knochen, und sie wurde so bleich und mager, dass sie bald wie ein wandelndes Skelett aussah – ein lebendes Gespenst. Wenn sie sich auf die Straße begab, wichen die Leute in weitem Bogen vor ihr aus. Die Kinder fürchteten sich vor ihr. Schließlich starb sie. In Elend und voller Hass. Und kaum war sie gestorben, begann der Spuk und hat bis jetzt nicht aufgehört.«
»Was? Die ganze Zeit seither?«
»Nein, nur hin und wieder. In den letzten Jahren etwas seltener. Aber sie erscheint immer noch, und Leute, die sich in den Marschen aufhalten, hören manchmal die Geräusche.«
»So ging es wahrscheinlich auch der alten Mrs. Drablow?«
»Wer weiß.«
»Nun, Mrs. Drablow ist jetzt tot. Mit Sicherheit wird der Spuk nun aufhören.«
Aber Mr. Daily war noch nicht fertig, im Gegenteil, er näherte sich erst dem Höhepunkt seiner Geschichte. »Und jedes Mal, wenn sie gesehen wurde«, fuhr er leise fort, »auf dem Friedhof, in den Marschen, auf der Straße im Ort, wie flüchtig und von wem auch immer, die Folgen waren immer die gleichen.«
»Ja?«, flüsterte ich.
»Immer starb ein Kind unter gewaltsamen oder entsetzlichen Umständen.«
»Was? Meinen Sie, durch einen Unfall?«
»Gewöhnlich durch einen Unfall. Aber ein- oder zweimal auch durch Krankheit, die sie innerhalb eines Tages oder einer Nacht dahinraffte.«
»Sie meinen, irgendein Kind? Irgendein Kind aus Crythin Gifford?«
»Irgendein Kind. Jeromes Kind.«
Ich sah plötzlich die Reihe kleiner, ernster Gesichter wieder, die Hände, die sich am Tag von Mrs. Drablows Beerdigung um den Zaun des Schulhofs geklammert hatten. »Aber, na ja … also … Kinder sterben eben manchmal.«
»Ja.«
»Gibt es noch etwas, das die Sterbefälle mit der Erscheinung der Frau in Verbindung bringt?«
»Sie glauben es vielleicht nicht. Vielleicht zweifeln Sie daran …«
»Nun, ich …«
»Wir wissen es!«
Nachdem ich in sein entschlossenes Gesicht geblickt hatte, sagte ich leise: »Ich zweifle nicht daran, Mr. Daily.«
Eine geraume Zeit sagte keiner von uns etwas.
Ich wusste, dass ich an jenem Morgen, nach mehreren Tagen und Nächten der Erregung und nervlichen Belastung durch den Spuk in Eel Marsh House, einen Schock erlitten hatte. Aber mir war nicht bewusst, wie tief und wie schlimm mich die ganze Sache sowohl körperlich als auch seelisch getroffen hatte.
Als ich an diesem Abend ins Bett ging, dachte ich, es wäre die letzte Nacht, die ich unter dem Dach der Dailys verbringen würde. Am nächsten Morgen wollte ich den ersten Zug nach London nehmen. Als ich Mr. Daily Bescheid gab, versuchte er nicht, mich umzustimmen.
In dieser Nacht schlief ich kaum. Mindestens einmal pro Stunde schreckte ich schweißgebadet aus heftigen Alpträumen auf. Dazwischen lag ich angespannt wach, lauschte, erinnerte mich und machte alles in Gedanken noch einmal durch. Ich stellte mir unbeantwortbare Fragen über das Leben und den Tod und den Grenzbereich dazwischen, und ich betete schlichte, tief aus meinem Herzen kommende Gebete. Wie die meisten Kinder war ich christlich und im Glauben an Gott erzogen worden. Und obwohl ich immer
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