Die Frau mit dem roten Herzen
Tages in die Staaten…«
»Aber er wird sie nicht finden.« Sie schüttelte den Kopf. »Das läßt unser Programm nicht zu.«
»Oder sie kommt eines Tages zurück, auf Besuch vielleicht …« Doch dann unterbrach er sich. »Nein, das wäre zu gefährlich.«
»Unmöglich.«
»Schwer ist es, sich zu treffen, schwerer noch, zu scheiden. / Der Ostwind weht matt, die Blumen welken …«, murmelte er. »Entschuldigung, ich zitiere schon wieder Lyrik.«
»Was ist daran verkehrt, Oberinspektor Chen?«
»Es ist sentimental.«
»Dann haben Sie sich in einen Einsiedlerkrebs verwandelt, der sich in seine rationale Schale zurückzieht.«
Sofort merkte sie, daß sie zu weit gegangen war. Warum war sie damit herausgeplatzt? War es die Irritation über den Ausgang des Falls, über die Unmöglichkeit, Wen wirklich helfen zu können? Oder war es die unbewußte Parallele, die ihr plötzlich aufgegangen war? Bald würde nämlich auch sie China verlassen.
Er sagte nichts.
Sie bückte sich, um ihren schmerzenden Knöchel zu massieren.
»Hier, nehmen Sie«, sagte er und bot ihr das letzte Stück Kuchen an.
»Was für ein seltsamer Name, Grüner Bambusblätterkuchen«, sagte sie, die Aufschrift entziffernd.
»Vielleicht werden bei der Herstellung Bambusblätter verwendet. Der Bambus ist ein fester Bestandteil der chinesischen Kultur. In jedem Landschaftsgarten gibt es einen Bambushain, und ein Gericht mit Bambussprossen darf bei keinem Bankett fehlen.«
»Interessant«, sagte sie. »Sogar chinesische Verbrecher führen das Wort im Namen ihrer Organisation.«
»Wie meinen Sie das, Inspektor Rohn?«
»Erinnern Sie sich an das Fax, das man mir am Sonntag ins Hotel geschickt hat? Es enthielt Hintergrundinformationen über internationale Triaden, die mit Menschenschmuggel zu tun haben. Eine davon nennt sich Grüner Bambus.«
»Haben Sie das Fax bei sich?«
»Nein, ich habe es im Hotel Peace gelassen.«
»Aber Sie sind sich sicher?«
»Ja, an diesen Namen erinnere ich mich ganz genau«, sagte sie.
Sie veränderte ihre Haltung. Ihm zugewandt, lehnte sie sich an die Säule. Er nahm die Teeschalen weg, worauf sie aus den Schuhen schlüpfte und die Füße auf die Bank zog. Ihr Kinn ruhte auf den Knien, die nackten Fußsohlen standen auf der kühlen Marmorfläche.
»Ihr Knöchel hat sich noch nicht völlig erholt«, sagte er. »Die Bank ist zu kalt für Sie.«
Sie fühlte, wie er ihren Fuß auf seinen Schoß bettete, mit den Handflächen ihre Fußsohle umschloß und mit den so erwärmten Händen ihren Knöchel massierte.
»Vielen Dank«, sagte sie und bewegte unwillkürlich die Zehen unter seinen Händen.
»Ich möchte Ihnen ein Gedicht rezitieren, Inspektor Rohn, dessen Teile sich während der letzten Tage in meinem Kopf zusammengefügt haben.«
»Ein Gedicht von Ihnen?«
»Eigentlich mehr die Imitation von ›Sonnenlicht über dem Garten‹ von MacNeice. Es handelt von Menschen, die dankbar sind für die Zeit, die sie miteinander verbringen dürfen, auch wenn der Moment ein flüchtiger ist.«
Die Hand auf ihrem Knöchel, begann er zu sprechen:
»Das Sonnenlicht brennt golden,
wir können den Tag nicht
hinüberretten vom alten Garten
auf ein Albumblatt.
Ergreifen wir ihn also,
die Stunde wartet nicht…«
»Sonnenlicht über dem Garten«, wiederholte sie.
»Das zentrale Bild der ersten Strophe fiel mir im Moscow Suburb ein. Dann, nachdem ich Lius Gedicht über den Loyalitätstanz gelesen hatte, besonders nachdem wir Wen und Liu begegnet waren, kamen weitere Zeilen hinzu«, erklärte er.
»Ist dann alles gesagt,
weiß keiner zu sagen,
wer antwortet und wer fragt.
Wer hält in seinem Bann –
Tanz oder Tänzer?«
»Der Tanz und der Tänzer, ich verstehe«, sagte sie nickend. »Für Liu war es Wen, die den Loyalitätstanz zu einem Wunder werden ließ.«
»Das Gedicht von MacNeice handelt von der Hilflosigkeit der Menschen.«
»Ich weiß, daß MacNeice einer Ihrer liebsten modernistischen Dichter ist.«
»Woher denn?«
»Ich habe Nachforschungen betrieben, Oberinspektor Chen. In einem Ihrer jüngsten Interviews sprechen Sie von seiner Melancholie. Sein Brotberuf erlaubte es ihm nicht, sich so auf seine Dichtung zu konzentrieren, wie er es gern getan hätte. Zugleich bedauerten Sie Ihre eigenen verpaßten Chancen als Dichter. Die Menschen sagen in ihren Texten, was sie im täglichen Leben nicht ausdrücken können.«
»Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll …«
»Sie brauchen nichts zu sagen,
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