Die Frau mit dem roten Herzen
auch sie quälten unbeantwortete Fragen. Immerhin hatten sie Wen gefunden.
Im Augenblick wollte sie diese Fragen lieber nicht stellen. Es gab auch noch einen anderen Grund für ihr Unbehagen, als sie neben ihm durch den Garten spazierte. In den vergangenen Tagen hatte er die Führungsrolle übernommen, hatte zu allem etwas zu sagen gewußt, egal ob es um Modernismus, Konfuzianismus oder Kommunismus ging. Am heutigen Nachmittag aber hatten sie die Rollen getauscht; sie hatte die Initiative ergriffen, und nun fragte sie sich, ob er ihr das übelnahm.
Im Garten war es ruhig; außer ihnen schien niemand unterwegs zu sein. Der Klang ihrer Schritte war das einzige Geräusch.
»So ein schöner Garten«, sagte sie. »Aber er ist völlig verwaist.«
»Das liegt an der Tageszeit.«
Dämmerung senkte sich auf die Gartenwege; die Sonne hing wie ein Stempelabdruck über den geschwungenen Dachtraufen der ehrwürdigen Steinpavillons. Sie gingen durch ein kürbisförmiges Tor zu einer Bambusbrücke, von wo aus sie die Goldkarpfen im ruhigen Wasser eines Teiches betrachteten.
»Ihr Kopf ist ganz woanders, Oberinspektor Chen.«
»Nein, ich genieße jede Minute hier – in Ihrer Gegenwart.«
»Sie müssen mir nicht schmeicheln.«
»Sie sind kein Fisch«, entgegnete er. »Woher wollen Sie also wissen, was ein Fisch fühlt?«
Sie gelangten zu einer weiteren kleinen Brücke und sahen am anderen Ufer ein Teehaus mit zinnoberroten Säulen und dem großen schwarzen Schriftzeichen für Tee, das auf ein gelbes Seidenbanner gestickt war. Vor dem Teehaus war ein Steingarten aus seltsam geformten Felsbrocken arrangiert.
»Sollen wir reingehen?« schlug sie vor.
Nach dem ursprünglichen Plan des Architekten war das Teehaus wohl der offizielle Empfangssaal des Anwesens, ein eleganter, großzügiger Raum, der dennoch düster wirkte. Spärliches Licht drang durch das farbige Glas der Fenster. Unter der Decke hing eine horizontal angebrachte Holztafel mit den Schriftzeichen: Rückkehr des Frühlings. Neben einem Lackparavant in der Ecke stand eine alte Frau hinter einer Glastheke. Sie reichte ihnen eine bambusummantelte Thermosflasche, zwei Schalen mit grünen Teeblättern, einen Teller in Soja gedämpften Tofu und eine Schachtel mit kleinen grünen Kuchen. »Wenn Sie mehr Wasser brauchen, können Sie hier nachfüllen.«
Sie waren die einzigen Gäste, und die alte Frau kümmerte sich nicht weiter um sie. Nachdem sie an einem der Mahagonitische Platz genommen hatten, verschwand sie hinter dem Wandschirm.
Der Tee war ausgezeichnet. Vielleicht lag es an den Teeblättern, vielleicht auch am Wasser und der friedvollen Atmosphäre. Auch der in aromatischer brauner Soße gegarte Tofu schmeckte gut. Lieber waren ihr allerdings die grünen Kuchen; sie hatten einen süßen, ungewöhnlichen Geschmack, den sie nie zuvor gekostet hatte.
»Das ist das perfekte Abendessen für mich«, sagte sie, ein winziges Teeblatt zwischen den Lippen.
»Für mich auch«, entgegnete er und goß Wasser in ihre Schale nach. »In der Kunst des Teetrinkens gilt die erste Schale nicht als die beste. Das optimale Aroma entfaltet sich erst im zweiten und dritten Aufguß. Deshalb bekommt man in diesen Teehäusern immer eine Thermoskanne, damit man in Ruhe den Tee genießen kann, während man die Gartenlandschaft betrachtet.«
»Ja, der Blick ist überwältigend.«
»Der Hui-Kaiser aus der Song-Dynastie liebte seltsam geformte Felsen. Deshalb ordnete er eine landesweite Suche nach solchen Steinen an – huashigang. Aber dann wurde er von den Jin-Invasoren gefangengenommen, noch bevor die Steine in die Hauptstadt gebracht werden konnten. Einige davon sind angeblich hier in Suzhou geblieben«, erzählte Chen. »Schauen Sie sich den da drüben an. Man nennt ihn ›Himmelspforte‹.«
»Wirklich! Da kann ich keine Ähnlichkeit entdecken.« Dieser Name schien ihr nicht die passende Bezeichnung für so einen kantigen, spitz aufragenden Stein, der eher einer Bambussprosse im Frühling glich. Es ließ sie keinesfalls an ein prächtiges Himmelstor denken.
»Sie müssen den Stein aus der richtigen Perspektive betrachten«, sagte er. »Er kann allem möglichen ähneln – einem im Wind schaukelnden Bambus ebenso wie einem im Schnee angelnden Alten, einem Hund, der den Mond anbellt, oder einer Frau, die auf die Rückkehr ihres Liebhabers wartet. Es kommt nur auf den Blickwinkel an.«
»Ja, es ist eine Frage des Blickwinkels«, sagte sie, obwohl sie keines dieser Bilder in dem
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