Die Frau mit dem roten Herzen
Stein erkennen konnte. Aber sie war froh, daß er wieder die Rolle des Fremdenführers übernommen hatte, auch wenn ihr dadurch die unliebsame Rolle der Touristin zufiel.
Der Anblick des Felsens hatte sie wieder in die Realität zurückgeholt. Trotz eines Sinologiestudiums würde ein amerikanischer Marshal nie dasselbe sehen wie sein chinesischer Kollege. Das war die ernüchternde Erkenntnis, die sie zu akzeptieren hatte. »Ich muß Ihnen noch ein paar Fragen stellen, Oberinspektor Chen.«
»Nur zu, Inspektor Rohn.«
»Warum haben Sie das weitere nicht den Kollegen überlassen, nachdem Sie von Liu aus die örtliche Dienststelle verständigt hatten? Man hätte Liu zur Kooperation zwingen können.«
»Das hätte man, aber diese Vorstellung behagte mir nicht. Schließlich hat Liu Wen nicht gegen ihren Willen festgehalten«, erwiderte Chen. »Und außerdem war da eine Reihe unbeantworteter Fragen, die ich noch mit den beiden klären wollte.«
»Haben Sie Ihre Antworten erhalten?«
»Einige zumindest«, sagte Chen und spießte einen Tofu-Würfel auf einen Zahnstocher. »Lius Reaktion war nicht vorauszusehen. Er ist ein hoffnungsloser Romantiker. Bertrand Russell sagt, romantische Leidenschaft erreicht ihren Höhepunkt, wenn Liebende gegen den Rest der Welt kämpfen.«
»Da kennen Sie sich offenbar gut aus, Oberinspektor Chen. Was wäre passiert, wenn Sie die beiden nicht hätten überreden können?«
»Als Polizist hätte ich dann einen objektiven Bericht an meine Dienststelle schreiben müssen.«
»Und die hätte sie zur Kooperation gezwungen, stimmt’s?«
»Ja. Woran Sie sehen, daß mein Verhalten im Grunde lächerlich war.«
»Nun, es ist Ihnen aber gelungen, sie zu überzeugen. Wen ist jetzt bereit, das Land zu verlassen«, sagte Catherine. »Können Sie mir noch mehr über die Beziehung zwischen Liu und Wen erzählen? Ich blicke da immer noch nicht ganz durch. Vielleicht haben Sie Liu ja Ihr Stillschweigen zugesichert, aber erzählen Sie mir soviel Sie verantworten können.«
Sie nippte an ihrer Teeschale, während er begann, war jedoch bald so fasziniert, daß der Tee kalt wurde. Er umriß die entscheidenden Fakten und ergänzte Einzelheiten aus Yus Befragung, die vor allem Wens elendes Leben mit Feng betrafen.
Catherine waren einige dieser Informationen bereits bekannt, aber nun fügten sie sich zu einem schlüssigen Bild zusammen. Nachdem er geendet hatte, starrte sie mehrere Minuten lang schweigend in ihre Teeschale. Als sie den Blick wieder hob, erschien ihr die Halle noch düsterer als zuvor. Jetzt wußte sie, warum er so deprimiert gewesen war.
»Nur noch eine Frage, Oberinspektor Chen«, sagte sie. »Die Verbindung zwischen der Polizei in Fujian und den Fliegenden Äxten: Ist das wirklich wahr?«
»Es ist zumindest sehr wahrscheinlich. Ich mußte ihr das sagen«, sagte Chen ausweichend. »Ich würde sie höchstens eine Woche lang schützen können, nicht länger. Sie hat keine andere Wahl, als in die Staaten zu gehen.«
»Das hätten Sie mir früher sagen sollen.«
»Sie verstehen wohl, daß es einem chinesischen Beamten nicht leichtfällt, so etwas zuzugeben.«
Sie ergriff seine Hand.
Der Moment der Stille wurde von der alten Frau unterbrochen, die hinter dem Wandschirm Kürbiskerne knabberte.
»Gehen wir hinaus«, sagte Chen.
Sie nahmen ihre Teeschalen und den Kuchen mit nach draußen. Über die Brücke gelangten sie in einen Pavillon mit roten Säulen und einem Dach aus gelbglasierten Ziegeln. Zwischen den Säulen verlief ein Holzgeländer mit einer umlaufenden Marmorbank. Sie stellten die Thermosflasche auf den Boden und arrangierten die Kuchen und Teeschalen zwischen sich auf der Bank. Kleine Vögel tschilpten in der Grotte hinter ihnen.
»Die Suzhouer Gartenlandschaften wurden geschaffen«, erklärte er, »um poetische Gefühle in den Menschen zu wecken.«
Obgleich sie sich alles andere als poetisch fühlte, genoß sie den Augenblick. Irgendwann in naher Zukunft würde sie an diese frühabendliche Stimmung in Suzhou als an etwas Besonderes zurückdenken. Sie lehnte sich seitlich an eine Säule und nahm plötzlich eine veränderte Atmosphäre wahr, so als hätte ein erneuter Rollenwechsel zwischen ihnen stattgefunden. Chen benahm sich wieder so, wie sie ihn kannte, und sie selbst wurde allmählich sentimental.
Was wohl Wen und Liu in diesem Moment taten?
»Wen und Liu müssen sich nun bald voneinander verabschieden«, sagte sie nachdenklich.
»Vielleicht reist Liu ja eines
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