Die Frau mit dem roten Herzen
Wen ging voran.
Es war kurz vor eins, und die meisten Dorfbewohner saßen zu Hause beim Mittagessen. Einige weiße Gänse, um eine Pfütze geschart, reckten die Hälse nach den Fremden. Eine Frau, die einen Korb voll tiefgrünem Frühjahrsgemüse trug, erkannte Wen, wandte sich aber beim Anblick der hinter ihr gehenden Fremden sofort ab.
Wens Haus lag in einer Sackgasse neben einer verfallenden, leerstehenden Scheune. Chens erster Eindruck war seine stattliche Größe. Es hatte einen Vorgarten und hinter dem Haus einen Hof. Jenseits eines mit Büschen überwachsenen Bachs ragte ein steiler Hang auf. Doch die rissigen Mauern, unlackierten Türen und zugenagelten Fenster gaben dem Gebäude ein heruntergekommenes Aussehen.
Sie betraten den Vorraum. Dort fiel ihm sofort das große, verblichene Mao-Porträt ins Auge, das flankiert wurde von zwei Parolen auf ausgefranstem, einstmals rotem Papier. Trotz der veränderten politischen Lage stand da noch immer: »Hört auf Maos Worte!« und »Folgt der Linie der Kommunistischen Partei!«
Auf Maos Kinn ruhte friedlich, wie eine zweite Warze, eine Spinne.
Der Ausdruck, der über Wens Gesicht huschte, war schwer zu deuten. Anstatt mit dem Packen zu beginnen, starrte sie mit bebenden Lippen auf das Mao-Bild, als würde sie noch immer als loyale Rotgardistin ihren Eid murmeln.
Mehrere Päckchen mit chinesischen und englischen Etiketten lagerten in einem Eimer unter dem Tisch. Wen nahm eines davon und steckte es in ihre Handtasche.
»Sind das die Präzisionsteile?« fragte er.
»Nein, das ist die Schmirgelpaste. Ich möchte ein Päckchen mitnehmen als Andenken an mein Leben hier. Ein Souvenir.«
»Ein Souvenir«, wiederholte Chen. Die smaragdgrüne Schlange, die in Lius Gedicht über die weiße Wand kroch. Auch er griff nach einer Packung, auf deren Etikett ein dickes Kreuz das abgebildete Feuer durchstrich. Etwas an Wens Erklärung kam ihm merkwürdig vor. Was gab es hier, an das sie gern erinnert werden wollte? Doch er wollte sie nicht auf ihr Leben im Dorf ansprechen, wollte keine alten Wunden aufreißen.
Der Vorraum führte in ein Eßzimmer, von wo aus Wen durch einen mit Perlenvorhang verhängten Durchgang in ein weiteres Zimmer verschwand. Catherine folgte ihr. Chen sah, wie sie Kinderkleidung aus einer Kommode nahm. Er konnte den beiden jetzt nicht behilflich sein und begab sich in den ummauerten Hinterhof. Eine Tür führte auf den Hang hinaus, war jedoch mit Holzplanken zugenagelt.
Er ging ums Haus in den Vorgarten. Der Rattanstuhl neben der Tür war staubig und an mehreren Stellen gebrochen. Er schien von der Gleichgültigkeit seiner Besitzer zu zeugen. Chen sah mehrere Bambuskörbe mit leeren Flaschen, meist Bierflaschen, die wie eine Fußnote zum allgemeinen Verfall wirkten.
Draußen erhob sich ein alter Hund von seinem Schattenplatz auf der Dorfstraße und schlich still davon. Ein Windstoß verwandelte die Trauerweide für Augenblicke in ein Fragezeichen. Chen lehnte rauchend am Türpfosten und wartete.
Spät am Abend würde ein Zug nach Shanghai gehen. Er beschloß, keinen weiteren Kontakt zur örtlichen Dienststelle aufzunehmen, und zwar nicht nur, weil die Kollegen nicht am Bahnhof erschienen waren. Seit Wen diese Reise vorgeschlagen hatte, wurde er sein ungutes Gefühl nicht los.
Er fühlte sich ausgebrannt. Im Zug hatte er kaum schlafen können. Die harte Klasse hatte sie während der Nacht vor unerwartete Probleme gestellt. Die untere Pritsche war für Wen reserviert gewesen, da man einer Schwangeren die Leiter nicht zumuten konnte. Die beiden oberen Pritschen beiderseits des Gangs belegten Catherine und er. Wen mußte ständig beobachtet werden, denn »auch gekochte Enten fliegen bisweilen davon«. Also lag er den Großteil der Nacht auf der Seite. Jedesmal, wenn sie ihr Bett verließ, mußte er hinunterklettern und ihr so unauffällig wie möglich folgen. Er widerstand der Versuchung, über den Gang zu Catherine hinüberzuschauen. Auch sie lag die meiste Zeit auf der Seite, nur mit dem schwarzen Slip bekleidet, den er ihr auf dem Huating-Markt gekauft hatte. Das schwache Licht spielte auf den sinnlichen Rundungen ihres Körpers, die schäbige Decke verhüllte kaum ihre Schultern und Beine. Sie konnte nicht auf das Bett unmittelbar unter sich schauen, also war ihr Blick notgedrungen die meiste Zeit auf ihn gerichtet. Auch als um Mitternacht die Lichter ausgingen, fühlte er sich nicht besser. Er war sich ihrer Nähe in der Dunkelheit nur allzu
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