Die Frau und der Sozialismus: Erweiterte Ausgabe (German Edition)
Art auf der Tribüne zu sehen. In Nordamerika erscheinen sie auch auf der Kanzel und auf der Geschworenenbank, warum also nicht auch auf der Tribüne des Reichstags? Die erste Frau, die in den Reichstag kommt, weiß zu imponieren. Als die ersten Arbeiter in denselben traten, glaubte man auch über sie witzeln zu können und behauptete, die Arbeiter würden bald einsehen, welche Torheit sie begingen, solche Leute zu wählen. Aber ihre Vertreter wußten sich schnell Respekt zu verschaffen, und jetzt fürchtet, man, daß es ihrer zu viele werden möchten. Frivole Witzlinge wenden ein: "Aber stellt euch eine schwangere Frau auf der Tribüne des Reichstags vor, wie unästhetisch!" Dieselben Herren finden es aber in der Ordnung, daß schwangere Frauen bei den unästhetischsten Beschäftigungen Verwendung finden, bei welchen Frauenwürde, Anstand und Gesundheit untergraben werden. Der Mann ist ein elender Wicht, der über eine schwangere Frau zu witzeln vermag. Der bloße Gedanke, daß einst seine eigene Mutter so ausgesehen, bevor sie in die Welt ihn setzte, müßte ihm die Schamröte auf die Wangen treiben, und der andere Gedanke, daß er, der rohe Spötter selbst, von einem ähnlichen Zustand seiner Frau die Gewährung seiner höchsten Wünsche erwartet, sollte ihn beschämt zum Verstummen bringen .
Eine Frau, die Kinder gebiert, leistet dem Gemeinwesen mindestens denselben Dienst wie ein Mann, der gegen einen eroberungssüchtigen Feind Land und Herd mit seinem Leben verteidigt ; sie gebiert und erzieht auch den späteren Mann, dessen Leben leider nur zu oft auf dem sogenannten "Felde der Ehre" verblutet. Außerdem: Das Leben der Frau steht in jedem Mutterschaftsfalle auf dem Spiele ; alle unsere Mütter haben bei unserer Geburt dem Tode ins Angesicht geblickt, und viele von ihnen sind dem Akt erlegen. "Übertrifft doch zum Beispiel in Preußen die Zahl der im Kindbett gestorbenen Frauen – darunter befinden sich die Opfer des Kindbettfiebers – die Verluste an Typhus ganz erheblich. Es starben an Typhus 1905 und 1906 je 0,73 und 0,62, im Kindbett aber 2,13 und 1,97 auf 10.000 lebende Frauen berechnet. Wie würden sich die Verhältnisse gestaltet haben – bemerkt mit Recht Professor Herff –, wenn Männer in gleicher Zahl diesen Leiden ausgesetzt wären? Würde nicht alles in Bewegung gesetzt werden?" Die Zahl der Frauen, die infolge von Geburten sterben oder siechen, ist weit größer als die Zahl der Männer, die auf dem Schlachtfeld fallen oder verwundet werden . Vom Jahre 1816 bis 1876 fielen in Preußen nicht weniger als 321.791 Frauen allein dem Kindbettfieber zum Opfer – durchschnittlich pro Jahr 5.363. In England betrug die Zahl der Frauen, die im Kindbett gestorben sind, vom Jahre 1847 bis 1901 213.533, und es sterben, trotz aller hygienischen Maßnahmen, nicht weniger als 4.000 jährlich .
Das ist eine weit größere Zahl, als innerhalb derselben Zeit in den verschiedenen Kriegen Männer getötet wurden oder an ihren Wunden starben. Und zu dieser enorm großen Zahl am Kindbettfieber gestorbener Frauen kommt die weit größere Zahl derjenigen, die infolge eines Wochenbetts dauernd siechen oder frühzeitig sterben . Auch aus diesem Grunde hat die Frau Anspruch auf volle Gleichberechtigung mit dem Manne. Dies muß namentlich denen gesagt werden, die die Vaterlandsverteidigungspflicht des Mannes als ein bevorzugtes Moment gegen die Frau geltend machen. Zudem leisten die meisten Männer, infolge unserer militärischen Einrichtungen, diese Pflicht nicht einmal, sie steht für die Mehrzahl nur auf dem Papier.
Alle diese oberflächlichen Einwendungen gegen eine öffentliche Tätigkeit der Frau wären undenkbar, wäre das Verhältnis der beiden Geschlechter ein natürliches und bestände nicht ein künstlich großgezogener Antagonismus zwischen den Geschlechtern. Trennt man doch beide schon von Jugend an im gesellschaftlichen Verkehr und in der Erziehung. Insbesondere ist es der dem Christentum geschuldete Antagonismus, der beständig die Geschlechter auseinander und eins über das andere in Unwissenheit erhält, was freieren geselligen Verkehr, gegenseitiges Vertrauen und gegenseitige Ergänzung der Charaktereigenschaften verhindert .
Eine der ersten und wichtigsten Aufgaben einer vernünftig organisierten Gesellschaft muß sein, diesen unheilvollen Zwiespalt aufzuheben und die Natur in ihre Rechte einzusetzen. Die Unnatur beginnt schon in der Schule. Einmal Trennung der Geschlechter, dann
Weitere Kostenlose Bücher