Die Frau und der Sozialismus: Erweiterte Ausgabe (German Edition)
aller Interessengemeinschaft gegen den gemeinsamen Feind, im Kampfe um die Beute sich gegenseitig bekämpfen. Das Interesse der einen Schicht steht dem Interesse der anderen gegenüber. Was ferner uns nützt, ist die täglich wachsende Meuterei in den Reihen der Feinde, deren Kämpfer zu einem großen Teil Bein von unserem Bein, Fleisch von unserem Fleisch sind, die aber aus Mißverstand und irregeleitet bisher gegen uns und sich selbst kämpften, aber immer mehr zur Einsicht gelangen und sich uns anschließen. Ferner hilft uns die Desertion der ehrlichen, zur Einsicht gekommenen Männer aus den Reihen der bisher feindlichen Denker, die ihr höheres Wissen, ihre bessere Einsicht anspornt, sich über ihr niederes Klasseninteresse zu erheben und, indem sie ihrem idealen Drange nach Gerechtigkeit folgen, sich den nach Befreiung lechzenden Massen anschließen. Vielen ist das Stadium der Zersetzung, in dem Staat und Gesellschaft sich bereits befinden, noch nicht zum Bewußtsein gekommen, und so ist auch diese Darlegung notwendig.
Dritter Abschnitt - Staat und Gesellschaft
Sechzehntes Kapitel - Der Klassenstaat und das moderne Proletariat
1. Unser öffentliches Leben
Die Entwicklung der Gesellschaft hat in den letzten Jahrzehnten in allen Kulturstaaten der Welt ein ungemein rasches Tempo genommen, das jeder Fortschritt auf irgendeinem Gebiet menschlicher Tätigkeit weiter beschleunigt. Unsere sozialen Verhältnisse sind dadurch in einen früher nie gekannten Zustand der Unruhe, der Gärung und Auflösung versetzt worden. Die herrschenden Klassen fühlen keinen festen Boden mehr unter ihren Füßen, und die Institutionen verlieren immer mehr die Festigkeit, um dem von allen Seiten heranziehenden Ansturm zu trotzen. Ein Gefühl der Unbehaglichkeit, der Unsicherheit und der Unzufriedenheit hat sich aller Kreise bemächtigt, der höchsten wie der niedersten. Die krampfhaften Anstrengungen, welche die herrschenden Klassen machen, um durch Flickwerk und Stückwerk am sozialen Körper diesem ihnen unerträglichen Zustand ein Ende zu machen, erweisen sich als eitel, weil als unzureichend. Die daraus erwachsende steigende Unsicherheit vermehrt ihre Unruhe und ihr Unbehagen. Kaum haben sie in das baufällige Haus in Gestalt irgendeines Gesetzes einen Balken eingezogen, so entdecken sie, daß an zehn anderen Punkten ein solcher noch nötiger wäre. Dabei befinden sie sich selbst untereinander beständig im Streit und in schweren Meinungsdifferenzen. Was der einen Partei notwendig dünkt, um die immer unzufriedener werdenden Massen einigermaßen zu beruhigen und zu versöhnen, geht der anderen zu weit, das betrachtet sie als unverantwortliche Schwäche und Nachgiebigkeit, die nur das Gelüste nach größeren Konzessionen erwecken. Dafür sprechen in schlagender Weise die endlosen Verhandlungen in allen Parlamenten, durch die immer neue Gesetze und Einrichtungen geschaffen werden, ohne daß man zur Ruhe und Befriedigung kommt. Innerhalb der herrschenden Klassen selbst sind Gegensätze vorhanden, die zum Teil unüberbrückbar sind, und diese verschärfen noch die sozialen Kämpfe.
Die Regierungen – und zwar nicht nur in Deutschland – schwanken wie ein Rohr im Winde; stützen müssen sie sich, denn ohne Stütze können sie nicht existieren, und so lehnen sie sich bald auf diese, bald auf jene Seite. Fast in keinem vorgeschrittenen Staate Europas besitzt eine Regierung eine dauernde parlamentarische Mehrheit, auf die sie mit Sicherheit rechnen kann. Die sozialen Gegensätze bringen die Majoritäten in Zerfall und Auflösung; und der ewig wechselnde Kurs, insbesondere in Deutschland, untergräbt den letzten Rest von Vertrauen, der den herrschenden Klassen zu sich selbst noch geblieben ist. Heute ist die eine Partei Amboß, die andere Hammer, morgen umgekehrt. Die eine reißt ein, was die andere erst mühselig aufgebaut hat. Die Verwirrung wird immer größer, die Unzufriedenheit immer nachhaltiger, die Friktionen häufen und mehren sich und ruinieren in Monaten mehr Kräfte als früher in ebensoviel Jahren. Daneben steigen die materiellen Anforderungen in Form der verschiedenen Abgaben und Steuern und wachsen die öffentlichen Schulden ins Maßlose.
Nach seiner Natur und seinem Wesen ist der Staat ein Klassenstaat. Wir sahen, wie derselbe notwendig wurde, um das entstandene Privateigentum zu schützen und die Beziehungen der Eigentümer unter sich und zu den Nichteigentümern durch staatliche Einrichtungen und
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