Die Frau und der Sozialismus: Erweiterte Ausgabe (German Edition)
getreten. Während bis dahin die Völker auf die Agrarprodukte der eigenen Landwirtschaft oder, wie zum Beispiel England, auf die der Nachbarländer – Frankreich und Deutschland – angewiesen waren, änderte sich von da ab die Situation. Es begann infolge der großartig verbesserten und entwickelten Verkehrsmittel – Seeschiffahrt, Eisenbahnbau in Nordamerika – die Lebensmitteleinfuhr von dort nach Europa und warf hier die Preise des Getreides, so daß der Anbau der Hauptgetreidearten in Mittel- und Westeuropa anfing, weniger rentabel zu werden, es sei denn, die ganzen Produktionsverhältnisse wurden geändert. Dazu kam, daß sich das Gebiet der internationalen Getreideproduktion bedeutend vergrößerte. Neben Rußland und Rumänien, die ihre Getreideausfuhr nach Möglichkeit zu steigern suchten, erschien namentlich argentinisches, australisches, indisches und zeitweilig auch kanadisches Getreide auf dem Markte. Im Laufe der weiteren Entwicklung kam ein neues, ungünstiges Moment hinzu. Es begann die Landflucht der Kleinbauern und ländlichen Arbeiter, die angereizt aus den oben erwähnten Ursachen, entweder nach jenseits des Ozeans auswanderten oder in Scharen vom Lande nach den Städten und Industriebezirken abwanderten, so daß die Arbeitskräfte auf dem Lande mangelten. Die überlebten patriarchalischen Zustände, namentlich im Osten Deutschlands, und die schlechte Behandlung und im höchsten Grade unfreie Stellung des ländlichen Arbeiters und des Gesindes steigerten noch diese Landflucht.
In welchem Maße die Wanderungsverluste zum Beispiel von 1840 bis zur Volkszählung 1905 eingetreten sind, dafür spricht, daß die preußischen Provinzen Ost- und Westpreußen, Pommern, Posen, Schlesien, Sachsen und Hannover 4.049.200 Personen verloren, und in demselben Zeitraum Bayern, Württemberg, Baden und Elsaß-Lothringen einen Verlust von 2.026.500 Personen hatten, wogegen zum Beispiel Berlin für denselben Zeitraum einen Wanderungszuschuß von rund 1.000.000 Personen erhielt, Hamburg 402.000, Königreich Sachsen 326.200, Rheinland 343.000, Westfalen 246.000 .
2. Bauern und Großgrundbesitzer
Mit allen diesen Veränderungen im Zusammenhang stand, daß die Landwirtschaft begann, an Kapitalmangel zu leiden, daß die früher vorhandene Entwicklung, die darauf hinausging, daß der Großgrundbesitz den Mittel- und Kleinbesitz aufkaufte und sich einverleibte, vielfach einer entgegengesetzten Tendenz Platz machte. Indes hatte dieser Druck auch zur Folge, daß der schwerfällige Charakter der landwirtschaftlichen Betriebsunternehmer allmählich sich änderte, weil man einsah, daß es in den bisherigen Geleisen nicht weitergehe, daß es gelte, sich zu rühren und neue Wirtschaftsweisen zu beginnen. Reich und Einzelstaaten waren bestrebt, durch eine entsprechende Zoll- und Verkehrspolitik und durch große direkte Aufwendungen für alle möglichen Zwecke auf Kosten der Gesamtheit der "Notlage der Landwirtschaft" aufzuhelfen. Insbesondere ist es der mittlere und große Besitz, der, vorausgesetzt, daß er in halbwegs technisch auf der Höhe stehender Weise bewirtschaftet wird, wieder sehr seine Rechnung findet, dafür sprechen die in den letzten Jahren ungemein gestiegenen Güterpreise.
Soll die Landwirtschaft prosperieren, so ist notwendig, daß sie in einer vom Kapitalismus beherrschten Gesellschaft auch kapitalistisch betrieben wird. Namentlich gilt es auch hier, wie in der Industrie, die menschliche Arbeitskraft durch die Maschine und die höhere Technik zu ersetzen beziehungsweise zu unterstützen. Daß dieses in steigendem Maße geschieht, dafür spricht, daß in Deutschland in dem Zeitraum von 1882 bis 1895 in der Landwirtschaft die Zahl der Dampfpflüge von 836 auf 1.696 und die Zahl der Kraftdreschmaschinen von 75.690 auf 259.364 gestiegen ist. Das ist im Vergleich zu dem, was durch landwirtschaftliche Maschinen geleistet werden könnte, noch außerordentlich wenig und spricht auf der einen Seite für die große Rückständigkeit des landwirtschaftlichen Gewerbes, auf der anderen Seite aber auch dafür, daß sowohl Mangel an Mitteln wie Unzulänglichkeit der von dem einzelnen bewirtschafteten Bodenfläche die Anwendung von Maschinen bisher unmöglich machte. Die Maschine fordert, soll sie rationell ausgenutzt werden können, die Anwendung auf einer größeren Fläche, die von ein und derselben Kultur in Anspruch genommen wird. Dem steht vielfach die große Zahl der klein- und mittelbäuerlichen
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