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Die Frequenzen

Die Frequenzen

Titel: Die Frequenzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
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viele denn?
    Seine Stimme verwandelte sich in die eines kreischenden Transvestiten:
    – Das! Ist nicht! Komisch!
    Die Runde johlte, man applaudierte dem Witz.
    – Ich weiß auch einen, sagte Franz. Wie viele Dadaisten braucht man, um eine Glühbirne auszuwechseln?
    Er ließ den imaginären Trommelwirbel verstreichen.
    – Zwei Nähmaschinen und eine Bratpfanne auf einem Operationstisch!
    Höfliches Gelächter. Franz war trotzdem glücklich. Es war sehr lange her gewesen, dass er einen Witz erzählt hatte, mehr als fünf Minuten. Ich fragte mich, ob er ihn nicht vielleicht eben erst erfunden hatte.
    Ich erhob mich von meinem Sessel und streifte meine Ärmel hoch. Dann tat ich so, als spuckte ich in meine Handflächen, und rieb sie aneinander. Walter schaute mich entsetzt an.
    – Okay, sagte ich. Also. Wie viele Bewohner aus Tschernobyl braucht man, um eine Glühbirne auszuwechseln?
    – Ach, das ist nicht komisch, sagte Franz.
    – Oh doch, antwortete ich finster.
    – Nein, sagte Franz, das ist nur makaber.
    – Doch, beharrte ich.
    – Nein, lass die armen Leute dort in Frieden, sagte Franz friedlich.
    – Ich versteh nicht, warum man darüber keine Witze machen darf, sprang Dieter ein.
    Er hatte den verschütteten Kaffee inzwischen aufgewischt und die braunen Papierknödel in die Abwasch geworfen.
    – Weil es nicht witzig ist, deswegen.
    – Aber vor kurzem hab ich eine Dokumentation über Tschernobyl gesehen, und da gab es witzige Szenen –
    – Ja, für dich vielleicht!
    – Ist ja schon gut, mein Gott. Wir sind aber heute reizbar.
    Eine Weile schwiegen alle. Ich stand unbeweglich da, beide Arme erhoben.
    – Und, sagte Franz, sagst du uns endlich, wie viele Tschernobyl-Menschen man braucht, um eine Glühbirne zu wechseln, damit wir uns alle wieder hinsetzen können?
    – Ich habe gedacht, das. Ist nicht. Witzig, sagte ich leise.
    – Dann eben nicht.
    – Okay. Alle bereit? Okay. Das hängt natürlich von der Anzahl der Tentakel ab, sagte ich so ernst wie möglich.
    Dieter räusperte sich amüsiert.
    – Hab ich’s nicht gesagt?, maulte Franz. Keine Spur witzig!
    Ich setzte mich wieder hin.
    – He, wie viele Nussknacker braucht man, begann Dieter –
    – Hör auf, sagte Franz sehr ernst.
    Ich hatte ihn durch meinen kurzen Auftritt offenbar aus dem Konzept gebracht. Die Stimmung verdorben. Was auch immer.
    – Gut, keine Witze mehr, sagte Dieter. Aber du kannst sagen, was du willst, ein Nussknacker ist und bleibt ein erotisches Objekt.
    – Stimmt. Mund auf, Mund zu, sagte Franz sarkastisch. Und dann noch dieser praktische Hebel am Rücken.
    – Nein, ich meine diese Husarenuniform. Davon bekomme ich immer ganz glitschige Handflächen. Und wenn er dann noch ein bisschen übergewichtig ist. So wie dein Dichter.
    – Joachim hat abgenommen, sagte Franz. Ich hab vor kurzem einen Vortrag gelesen, den hat er für irgendeine abgehalfterte Ernährungsberaterin geschrieben. Ein elendslanges Geschwafel mit dem Titel
Über Selbstbestimmung
. Natürlich hat er sich das meiste einfach aus den Fingern gesogen. Kein schlechter Beruf, die hat ihm ein Schweinegeld dafür bezahlt, fünfhundert Euro. Jedenfalls beschreibt er darin, wie er seine Kilos verloren hat. Und jetzt schaut er wirklich gut aus, du solltest ihn sehen –
    Ein Korken, der lange in einem engen Hals festgesteckt war, riss sich los und knallte durch meinen Schädel. Alle starrten mich an.
    – Was denn, was ist denn jetzt wieder?, erhob sich Dieter. Walter, was zum Teufel ist los mit dem?
    Ich war wieder aufgestanden. Meine Hand zitterte.
    – Ich muss dann gehen, sagte ich. Haha.
    – Ganz ruhig, sagte Dieter, setz dich wieder hin.
    – Hahaha, sagte ich.
    Eine unbeherrschbare Wut blies sich in mir auf wie Popcorn in dem Mikrowellenbeutel.
    – Warte, sagte Walter.
    – Warte, warte, wiederholte ich zerstreut. Nein, ich bin sowieso schon viel zu spät dran.
    – Aber wir waren doch gerade dabei, das Thema zu wechseln, sagte Franz enttäuscht. Darf ich jetzt nicht einmal mehr –
    Er verstummte.
    Meine Faust war auf den Tisch geknallt. Der Schmerz, der durch die gekrümmten Finger strömte, war köstlich und erfrischend, wie der erste Löffel aus einem eiskalten Joghurt.
    Erst als sich die Tür hinter mir schloss, erlaubte ich meiner Faust, sich langsam zu öffnen.
    Draußen hatte sich der Himmel verfinstert. Schwarz und verbittert hing er über der Stadt. Ich steckte die Hände in die Tasche. Eine Weile sah ich, während ich so dahinging, nur auf die

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