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Die Frequenzen

Die Frequenzen

Titel: Die Frequenzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
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Straße, Schattierungen von Grau, denen jeder Städtebewohner ausgesetzt ist. Auf den Stromleitungen saßen Vögel und unterhielten sich. Und weiter entfernt, in Richtung der Inneren Stadt, zog über den trägen Gewitterhimmel ein kleines flatterndes Etwas, ein mechanischer Vogel vielleicht, eine Schwalbe, ein verirrter Papierdrachen, ein Modellflugzeug mit beweglichen Flügeln, oder ein Bote des Todes: eine kleine, entflohene Lesebrille auf dem Weg in den Süden.

Der Zeitsprung
    Steiner taumelte mit blutverschmierter Hand in seine Wohnung und brach erschöpft am Küchentisch zusammen.
    Tollwut! Tollwut!
– Das entsetzliche Wort geisterte durch seinen Kopf, durch seine Nerven, ein wahnsinniger, brennender Kreisel, der sich immer schneller drehte.
    Auf seiner Wange waren Tränen getrocknet und er hatte Schwierigkeiten beim Atmen. In seiner Panik vergaß er sogar, seine Schuhe auszuziehen. Er hinterließ kleine, braune Spuren auf dem Teppich und dem Linoleumboden. Er schwitzte und hatte Angst – das waren die ersten Zeichen, ach, warum war er nicht zuhause geblieben, warum musste er diese Spaziergänge machen, die ihn ja doch nie irgendwohin brachten, wo es ein wenig leichter und ordentlicher zuging, ach, wie er schwitzte. Als ginge er im Fasching als Träne.
    Er musste lachen. Das war ein witziger Vergleich.
    Die Tageszeitung, über die er seine blutige Hand hielt, war voller roter Tropfen. Sein Blick fiel auf die Schlagzeile:
Skandalwerbung macht sich lustig über Sterbende – Verantwortlichen droht Prozess
. Sterbende, das Wort war ein düsterer Wegweiser in die Zukunft. Steiner spürte, dass ihm eiskalt wurde, und er sprang auf, widerstand nur mit Mühe dem Bedürfnis, sich mit beiden Händen die Haare zu raufen, und lief zum nächsten Wasserhahn. Dabei kam er im Flur an seinem Kalender vorbei. Er zeigte immer noch den gestrigen Tag! Natürlich, das musste es sein, nun war alles klar. Jeden Tag der letzten zwanzig Jahre hatte er immer morgens abgelöst (er bevorzugte entschieden Tageskalender; Darstellungen einer ganzen Woche hatten in seinenAugen etwas Ausschweifendes und Überflüssiges), aber heute musste er es vergessen haben, dachte er verwirrt. Er schüttelte den Kopf. Er hätte sich ohrfeigen mögen, wäre nicht seine rechte Hand blutverschmiert gewesen.
    Auch das Kalenderblatt konnte er nicht mit links abreißen. Er tat es sonst immer mit rechts. So gut es ging, wusch er sich im Bad die Hand, die, nachdem das Blut abgewaschen war, eine Reihe von Löchern präsentierte, kleine, beleidigte Öffnungen. Er wickelte die Hand in ein großes Papiertaschentuch, dann ging er schnell zurück in den Flur.
    Er nahm das Kalenderblatt zwischen Daumen und Zeigefinger und riss es ab, so schnell, als würde er ein Heftpflaster von einer behaarten Hautstelle reißen.
    Er stand eine Weile da, zufrieden, selbst der Schmerz schien vergessen, dann dämmerte ihm, was er getan hatte.
    Der Schaden war irreparabel. Er hatte sich – es war so banal, dass ihm davon schlecht wurde –, er hatte sich verlesen, hatte eine Fünf statt eine Sechs gelesen, als wären diese zwei Ziffern so leicht zu verwechseln! Jetzt kam die Sieben zum Vorschein, diese schlanke und lasziv zur Seite geneigte Zahl, ein böses, weibliches Omen. Nicht umsonst sagte man auch
die
Sieben. Eine verwunschene Zahl. Keine guten Dinge waren siebenfach vorhanden. Die Sieben Weltwunder –
    – Abgebrannt, alle abgebrannt, schrie Steiner in seiner leeren Wohnung und schlug sich mit der verarzteten Hand auf die Stirn.
    Ein Kalenderblatt, das einmal abgerissen worden war, blieb verloren, man konnte es nicht mehr zurückhängen wie Christbaumschmuck. Steiner hörte in der Ferne Böllerschüsse und einen bedrohlichen Dauerton, so wiewenn jemand entsetzlich langsam über eine tiefe Celloseite streicht.
    Nein, der Zeitsprung war unvermeidlich.
    Es war Abend und an der Wand hing das Datum des Folgetages. Wie sollte er diese Nacht überstehen. Es war alles aus den Fugen geraten.
    Warum hatte er diesen verdammten Köter, der da vor dem Haus einfach schamlos auf den Boden geschissen hatte, unbedingt mit einem Stock vertreiben müssen? Ein einfaches Händeklatschen hätte vermutlich genügt. Oder die leere Popcorntüte werfen. Aber er hatte sich so geärgert, weil er hineingetreten war.
    – Die schönen neuen Schuhe, sagte er laut.
    Der Hund war, als er den Stock gesehen hatte, sofort ausgeflippt, hatte geknurrt und war auf ihn losgegangen. Er hatte natürlich versucht, ihn

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