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Die Frequenzen

Die Frequenzen

Titel: Die Frequenzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
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Weinkostern aufgetischt. Die wiederholen dann das Ritual: kosten, urteilen, ausspucken. Und so geht’s ewig weiter. Der dicke, saure Saft im Eimer ist immer derselbe, und längst weiß kein Weinkoster mehr, wie Wein tatsächlich schmeckt. Hin und wieder, vielleicht einmal in zehn Jahren, mitten in der erlesenen Verkostung, befällt einen von ihnen eine unerklärliche Sehnsucht nach echtem Geschmack. Und er traut sich und schluckt den Saft, der nach fremden Halsentzündungen und Goldzähnen schmeckt.
    – Und fällt tot vom Sessel, sagte Dieter.
    Was zum Teufel machte ich hier? Walter schien sehr glücklich. Das waren seine Freunde. Er hatte sie zwar, wie es schien, eine Weile nicht mehr gesehen, aber es waren seine Freunde. Ich schaute auf die Uhr. Ich hatte eigentlich im schönen, weißen Aufenthaltsraum des leeren Krankenhauses fernsehen wollen. Jetzt würde ich alles verpassen.
    – Ah, ich kann ihn gar nicht ansehen, sagte Dieter in meine Richtung und schirmte sein Gesicht theatralisch mit einer Hand ab. Dieses verletzte Gesicht. Er sieht ein bisschen aus wie Julian, findest du nicht, Kuh?
    – Leck mich, sagte Franz.
    – Ich weiß auch nicht, was das ist, aber ich bin heute voll auf Mitleid, sagte Dieter.
    – Auf was?, fragte Walter.
    – Ich mein’s ernst. Vollkommen, ich … ich heul hier gleich los, verstehst du?
    – Spinnst du jetzt?, sagte Franz, der endlich herausgefunden hatte, wie die Kaffeemaschine funktionierte.
    – Gleich kommt die Heulboje.
    – Um Gottes willen, sagte Franz, geh auf die Toilette, wenn du weinen willst. Aber nicht hier am Tisch.
    – Doch, doch, ich mein’s ernst, beharrte Dieter auf seinem Standpunkt, den niemand angezweifelt hatte. Es fehlt wirklich nur mehr der letzte Tropfen. Wenn jemand
Time to say goodbye
singen würde zum Beispiel.
    – Na gut. Goodbye.
    Franz winkte theatralisch.
    – Nein, die Arie.
    – Kenn ich nicht, sagte Franz. Es gibt mehr zwischen Himmel und Erde.
    Wieder der schnell hin und her wandernde Zeigefinger, diesmal zwischen Boden und Zimmerdecke.
    – Du kennst
Time to say goodbye
nicht?, fragte Dieter entsetzt.
    – Hörst du nicht zu? Zwischen Himmel und Erde gibt es –
    – Du hast ja von nichts eine Ahnung, du bist total, ich meine … also ich hab wirklich Mitleid mit dir!
    – Und? Fängst du jetzt zu flennen an?, sagte Franz.
    – Das glaub ich einfach nicht, seufzte Dieter, er kennt
Time to say goodbye
nicht, sagte er. Verrückt. DJ Dummkopf!
    – Weißt du, was Mitleid ist?, sagte Franz. Vergeben. Jemandem vergeben.
    – Jetzt geht das wieder los.
    – Stell dir vor, du streitest mit Jesus. Er, der Leidensmannam Kreuz, mit diesem schmerzverzerrten Gesicht, das ständig etwas beleidigt zur Seite gedreht ist, als würde er das ganze Ungeziefer auf Erden nicht mehr ertragen. Und du stehst da vor ihm, brüllst ihn an:
Wie kann ein Gott das alles zulassen
und so weiter,
diesen ganzen Wahnsinn hier unten, wenn doch alles Sein Wille ist
… ja …
Seine Imagination, Sein Traum, hier, dieser ganze Planet und alles drum herum, ja, was bildet Er sich ein?
Aber der am Kreuz hängt nur da, sagt nichts, stellt sich tot. Und du wirst natürlich sauer, dieses ganze vernunftwidrige Schweigen steht dir bis hier, ja, bis hier – und du schreist ihn an:
Weißt du was? Ich werde dir sagen, was du für mich bist! Soll ich’s dir sagen? Ja? Du existierst für mich nicht mehr! Du, du bist für mich
gestorben
!
    – Ha!
    – Hahahaha!
    – Das war ja ein Witz, sagte Dieter erleichtert. Und ich hab schon gedacht, du hältst wieder einen theologischen Vortrag.
    – Jesus sprach zu seinen Zwölfen: Geht und heulet mit den Wölfen!, sagte Franz.
    – Und das war sogar gereimt!, rief Dieter mit sarkastischer Begeisterung. Und du bist dir sicher, dass der große Hutmek seine Ideen nicht von dir hat? Vielleicht saugt er sie nachts aus dir raus?
    – Ich weiß noch einen Witz, sagte Franz in meine Richtung. Welches Spiel kann man mit schizophrenen Leuten spielen? Ich-sehe-was-was-du-nicht-siehst!
    Alle lachten. Mist, ich würde die
Simpsons
verpassen. Meine Finger spielten nervös am Band meiner Uhr herum.
    – Oder!, legte Franz nach. Ein Spiel für Paranoiker: Ich-sehe-was-was-du-nicht-siehst. Ja: Zusammenhänge!
    Dieter quietschte und fiel beinahe vom Sessel.
    Ich musste ins Krankenhaus, ich musste ins Krankenhaus. Das leere, tote Krankenhaus. Es war Viertel nach sechs und draußen dämmerte es schon.
    Der Kaffee wurde serviert.
    – Wäh, sagte Dieter, schmeckt wie

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