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Die Frequenzen

Die Frequenzen

Titel: Die Frequenzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
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auf den Asphalt zu drücken, so wie er es mit dem Kind gemacht hatte, das den Igel gequält hatte. Oder brachte er da etwas durcheinander? Mein Gott, er konnte nicht einmal mehr richtig denken. Es war klar, dass seine Gedanken ängstlich im Kreis gingen – eines der ersten Anzeichen der Tollwut. Ein anderes Symptom war, dass man plötzlich Hoffnung hatte, obwohl der Erreger sich bereits im Nervensystem befand und dort in einem Zimmer nach dem anderen das Licht abschaltete.
    Steiner setzte sich in einen alten Ohrensessel, der so unförmig war, dass man glauben konnte, er wäre gar nicht für einen Menschen gemacht worden, sondern für eine missgestaltete Giraffe. Er sah sich im Zimmer um, ob noch jemand da war. Auch das gehörte zur Tollwut. Angst vor Verfolgern.
    Das Smileygesicht einer Steckdose öffnete seine tiefen, schwarzen Knopfaugen und schaute ihn vorwurfsvoll an.
    –
Übertragen durch Hundebiss
, belehrte ihn die Steckdose.
Eine seit Jahrtausenden in allen Bevölkerungsschichten gefürchtete Krankheit, die vor allem das Zentralnervensystem befällt und nach und nach lahmlegt. Zu ihren Symptomen gehören Halluzinationen, Paranoia, Verwirrung, Lähmungen, eine Menge wenig hilfreicher Blumen neben dem Krankenbett, Angst vor Wasser und schließlich Tod durch Ersticken
.
    Steiner wischte sich den Schweiß von der Oberlippe. Mein Gott, er schwitzte überall. Auch auf der Stirn, sogar unter dem Kinn.
    Es gab keinen Zweifel: Es begann.
    Die Zeit war zu einem schwirrenden Fliegenschwarm geworden, der sich langsam um ihn schloss wie eine sanfte Faust.

Öffentliches Ärgernis
    Nicht weit hinter dem Bauernmarkt zierte ein überdimensionaler Hundehaufen den Asphalt, darin ein breiter Schuhabdruck, dann in regelmäßigen Abständen Spuren von Hundekot, dann ein wilder Ausbruch, der novellistische Wendepunkt, der Augenblick, da der Träger des Schuhs bemerkt:
Alles verschmiert, Himmelherrgott!
    Ich musste den Flecken großräumig ausweichen, den Schmierspuren eines wütenden Tanzes, den der Mann auf der Straße aufgeführt haben musste, nachdem er sein Malheur entdeckt hatte.
    – Ja, ich bin wieder da, sagte ich in mein Headset, kannst du mich hören? Endlich bin ich diese Idioten los, endlich ein bisschen Ruhe und frische Nachtluft, diese albernen Witzeerzähler, immer müssen sie alles kaputt machen! Waah! Entschuldigung, ich hab mich nur erschreckt … dieses riesige Baugerüst, bei Nacht … ziemlich gespenstisch. Wie der Rumpf eines Riesen, der plötzlich vor einem aus dem Boden ragt. Das ist ja auch das Lustige an Städten. Die wirklich interessanten Dinge, die man als Tourist sehen kann, sind eben nicht die Gebäude oder die Menschen, die man eh überall antrifft, nein, sondern die Gerüste, die Baustellen und diese hübschen geometrischen Fantasien, die man
Verkehrsumleitungen
nennt. In Venedig, da gibt es die schönsten Baugerüste der Welt, wahre Meisterwerke der Balancierkunst. Die Baugerüste in Venedig erlauben sich alle schlechten Manieren, die man sich vorstellen kann. Sie stehen auf zwei oder drei schwindligen Holzbrettern, die einfach so aus dem Wasser ragen, und oben turnen ein paar Arbeiter herum, mit nacktem Oberkörper, und brüllen sich über den Hafenlärmhinweg irgendwelche Liedanfänge oder Verwünschungen zu.
    Der schwarz glänzende Geruch von frischem Teer, von der Nacht sanft abgekühlt, wehte über die Kreuzung. Ein Mann kam aus dem Nichts und rempelte mich an. War ich auf einmal unsichtbar? Ich drehte mich nach ihm um, verdammter Trottel, wohl keine Augen im Kopf. Aber er bemerkte mich nicht. Auch er telefonierte.
    – Diese ganzen Telefonmenschen … ein öffentliches Ärgernis. Sicher, du hast vollkommen Recht. Aha … aha … Ja, ich meine, all diese Leute, die die armseligsten Verrenkungen machen, wenn in ihrer Jackentasche eine alberne Melodie zu spielen beginnt, oder die vor Aufregung fast vom Fahrrad fallen, wenn es in ihrer Hose vibriert. Aber ich liebe die Art, wie diese Telefone auf einer Tischplatte zu wandern und sich im Uhrzeigersinn zu drehen beginnen, wenn sie vibrieren. Warum eigentlich immer im Uhrzeigersinn? Vielleicht eine Spielart des Coriolis-Effekts. Und außerdem:
Esse percipi
. Kein anderes unbelebtes Objekt spricht diese Wahrheit so deutlich aus wie unsere kleinen Telefone. Man ist da, man existiert, denn man kann jeden Moment angerufen werden. Das passiert natürlich nicht oft, manchmal muss man selber eingreifen, aber es ist zumindest immer möglich, außer die

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