Die Frucht des Bösen
Grenzen. Meine Hände fangen schon zu zittern an. Um mich zu beruhigen, atme ich tief durch.
Noch hat er sich im Griff. Denk daran, noch hat er sich im Griff.
Ich trage den Becher ins Wohnzimmer, stelle ihn auf dem gläsernen Beistelltisch ab und beobachte ihn unter gesenkten Augenlidern. Wenn seine Füße auf dem Boden bleiben, setze ich weiter auf Beschwichtigung. Wenn er aber schon zuckt, mit dem Fuß wackelt oder die Schultern kreisen lässt wie so oft, bevor er zum Schlag ausholt, bin ich ganz schnell im Badezimmer, wo ich dann so viel Ativan unter seinen Drink rühre, dass er stehend einschläft.
Wie gesagt, es gibt Dinge, die sich, wenn man sie einmal aufgegeben hat, nicht mehr zurückholen lassen.
Er greift zum Becher. Die Füße stehen still, die Schultern hängen locker. Er probiert, hält inne …
Stellt den Becher wieder ab.
Ich habe gerade vorsichtig Luft geholt, als er den Becher wieder packt und mir gegen die Schläfe wirft. Der Becher ist leicht und aus Plastik. Der Aufprall tut nicht weh, aber ich bin so erschrocken, dass ich zurücktaumle.
«Was zum Teufel ist das?», brüllt er mir aus nächster Nähe ins nasse Gesicht.
«Wasser», antworte ich benommen.
Er versucht, mich ein zweites Mal zu schlagen, und bekleckert die Couch. Plötzlich haben wir es beide eilig. Ich renne los, in Richtung Badezimmer, wo der Arzneischrank hängt, und er rennt hinter mir her, um mich von den Beinen zu reißen, meinen Kopf auf die Dielenbretter zu hämmern oder mir seine Hände um die Kehle zu legen.
Auf der Schwelle zum Flur erwischt er mich am Fußgelenk. Ich stürze auf mein rechtes Knie, trete reflexhaft nach hinten aus und höre, wie er wütend aufschreit.
Kaum habe ich mich aufgerafft und vier weitere Schritte entfernt, wirft er sich mir in die Seite. Ich fliege gegen die Holzvertäflung und prelle mir die Rippen an der Stuhllehne.
« SCHLAMPE ! Schlampe, Schlampe, Schlampe.»
«Bitte», wimmere ich. Es hilft nichts. Vielleicht hätte ich sagen sollen «bitte, bitte, bitte».
Er packt mich beim Handgelenk und drückt so fest zu, dass ich spüre, wie kleine Knöchelchen aneinanderreiben.
«Bitte, Schatz», flüstere ich wieder, verzweifelt bemüht, beruhigend auf ihn zu wirken. «Lass los, Schatz. Du tust mir weh.»
Aber er lässt nicht los. Ich habe ihn falsch gelesen, bestimmte Anzeichen übersehen, und jetzt ist er außer sich. Ich kann nichts sagen, nichts tun, es würde nichts nützen. Er ist ein wildes Tier und muss jetzt jemandem wehtun.
Und ich denke wie schon so oft in solchen Momenten, dass ich ihn immer noch liebe, so sehr liebe, dass mir nicht nur der eine oder andere Knochen, sondern das Herz zu brechen droht, und selbst jetzt muss ich mich hüten. Ich möchte ihm nicht wehtun.
Dann, urplötzlich, trete ich zu und treffe mit der Schuhspitze unter seine Kniescheibe. Er geht zu Boden, und ich reiße mich von ihm los. Ich renne ins Badezimmer, zerre die Tür des Arzneischränkchens auf und krame auf der Suche nach dem orangefarbenen Fläschchen darin herum.
«Ich bring dich um!», brüllt er durch den Flur. «Ich stech dich ab und reiß dir den verdammten Kopf vom Hals. Ich fress dein Herz und trink dein Blut. Ich töte, töte, töte dich!»
Dann höre ich, was ich nicht hören will, das
Patsch-patsch-patsch
seiner nackten Füße im Flur, die im Laufschritt auf die Küche zusteuern.
Ativan, Ativan, Ativan. Verflucht, wo ist das Ativan.
In meiner Hektik stoße ich das Fläschchen um. Es fällt aus dem Schrank zu Boden und rollt über die Fliesen.
Ich höre ihn wieder wie wahnsinnig schreien. Anscheinend hat er gerade entdeckt, dass ich die Küchenmesser weggeschlossen habe, vor zwei Wochen schon, mitten in der Nacht, als er schlief. Man muss immer mindestens einen Schritt voraus sein. Unbedingt.
Das Ativan ist hinter die Kloschüssel gerollt. Meine Hände zittern. Ich komme nicht ran. In der Küche kracht und scheppert es. Die Türen der Kirschholzvitrine fliegen auf. Tassen, Teller und Schalen prallen auf die italienischen Fliesen. Ich habe schon vor Jahren komplett auf Melamin umgerüstet. Unser ganzes Geschirr ist aus unzerbrechlichem Kunststoff, was ihn noch mehr in Rage bringt. Er muss die Küche auf den Kopf stellen, das macht er immer so, und wenn nicht genug zu Bruch geht, dreht er völlig durch.
Plötzlich Stille. Über die Kloschüssel gebeugt und den Arm in Richtung Fläschchen ausgestreckt, halte ich unwillkürlich die Luft an. Es bleibt still, und das zerrt mehr an
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