Rafflenbeul, S: Elfenzeit 14: Der Magier von Tokio
Prolog
Freiheit
Silberne Regenschleier stürzten in die Schlucht zwischen den Hochhäusern. Überall flimmerte Licht, brandete Neon gegen die Abenddämmerung, blitzten und blinkten Werbungen an Hochhäusern und in Schaufenstern. Autos hupten und bremsten. Quietschende Reifen und laute Rufe dröhnten ihm in den Ohren. Der Mann auf der Straße wich zur Seite aus, auf den grauen, breiten Gehweg. Er stand still, als der Verkehr weiterging und die Autos wieder ihren gewohnten Weg nahmen.
Während der Regen seine Kleidung durchdrang, schloss er die Augen und atmete die Luft der Großstadt. Hierhin hatte seine Magie ihn gebracht. Das war der Ort, an dem er Verbündete finden würde und seine Rache üben konnte.
Ihm war, als höre er die Gedanken der Menschen; Tausend wispernde Stimmen, gefangen im Alltag, auf der Jagd und auf der Flucht. Getrieben von Sorgen und Nöten, wussten diese Leute wenig über sich und das dunkle Leben dieser Stadt. Sie waren nur ein winziger Teil, ein Tropfen im Meer der Metropole, die alles übertraf, was er je an Städten gesehen hatte. Pulsierend, lebend, von alten und neuen Zaubern erfüllt. Durchdrungen von Geheimnissen der Vergangenheit und der Vermischung zweier Welten.
Ja, das ist der richtige Ort. Voller Möglichkeiten
.
Lange genug hatte er sich in Sizilien versteckt. Im Verborgenen hatte er sich erholt und sein neues Sein ergründet. Seine Hand berührte die Mitte seiner Brust in der Nähe seines Herzens. Es war ihm, als habe sie dort gesessen, die Seele, die man ihm geraubt hatte. Der goldene Funken, den er schmerzhaft vermisste.
Wieder sah er sich in Bandorchus Gemach, spürte die entsetzliche Pein, das Reißen und Zerren, das ihn in den Wahnsinn stürzte und ihm Schreie entlockte, die ihm fremd waren.
Die Dunkle Königin hatte seine Seele gierig getrunken. Als sie satt gewesen war, war sie gegangen. Sie hatte ihn in ihren Gemächern liegen lassen und ihn vergessen. Vermutlich hatte sie geglaubt, er sei tot, doch das war er nicht.
Untot. Seelenlos. Ein Magier. All das mochte auf ihn zutreffen, aber
tot
war er nicht. Trotz der schrecklichen schwarzen Leere in seiner Brust fühlte er sich lebendiger als jemals zuvor. Er war stark, vielleicht der mächtigste Magier seiner Zeit auf Erden. Wie stark er wirklich war, musste er selbst erst ergründen. Damit wollte er noch an diesem Tag beginnen.
Menschen strömten an ihm vorbei. Kleine, dunkelhaarige Männer in bunten Regenjacken oder mit aufgespannten durchsichtigen Kunststoffregenschirmen, Frauen mit abgedeckten Kinderwagen und Kinder in Schuluniformen, mit nassen Haaren. Sie alle betrachteten ihn verstohlen, musterten den gut aussehenden Mann im italienischen Anzug, der ohne Schirm im Regen stand, und hasteten schweigend weiter. Sie waren zu höflich, um ihn anzusprechen, zu sehr in ihrer Welt gefangen, die bald die seine sein sollte.
Ich werde in ihre Wünsche und Ängste eindringen. Ich werde sie lenken und über sie herrschen, ohne dass sie es auch nur bemerken!
Ja, das war der richtige Ort. Ein zarter Ton schwang in seiner Nähe, unhörbar für Menschen. Er aber war kein Mensch mehr. Er war etwas anderes, Neues.
Ich spüre Macht. Ich höre den Ruf der Magie
.
Der Conte del Cagliostro ging los. Zielstrebig schritt er durch den Regen. Kälte und Wind fühlte er nicht. Mit den Schuhspitzen stieß er achtlos matschige Herbstblätter beiseite, schob altes Zeitungspapier mit bedruckten Kanji-Zeichen davon und trat auf Werbezettel.
Seine Füße trugen ihn dem Ziel entgegen. Er hätte die Augen nicht öffnen müssen, um es zu erkennen. Angezogen von magnetischen Linien, von silbernen Klängen, fand er den Weg zu einem schimmernden Pulsieren, das Macht verhieß. Dort würde er Antworten erhalten – und auf ein anderes mächtiges Wesen treffen, das er in den letzten Wochen und Monaten ausfindig gemacht hatte.
Der Conte war kein Narr. Er wäre nicht über zwei Jahrhunderte hinweg ein Herrscher der Lagune Venedigs gewesen, wenn er seine Grenzen nicht gekannt hätte. Für seine Pläne brauchte er Verbündete. Er wollte Nadja Oreso, die Frau, die seinem Treiben in Venedig ein Ende gesetzt hatte. Und er wollte Dafydd, den Sohn Fanmórs, der ihm entkommen war und der durch seine Flucht die Pläne des Conte vereitelt hatte. Nur durch Dafydds und Nadjas Schuld war er – der Sohn eines berüchtigten, weltbekannten Magiers und Alchemisten – in die Hände der Dunklen Königin geraten. Er hatte Unsägliches erlitten. Doch nun war er frei.
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