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Die Frühreifen (German Edition)

Die Frühreifen (German Edition)

Titel: Die Frühreifen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philippe Djian
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Acht Monate nach dem Tod seiner Schwester wachte Evy noch immer ganz plötzlich vor Tagesanbruch auf. Es war nicht mehr nötig, an seine Tür zu klopfen, laut zu reden oder die Vorhänge aufzuziehen, um ihn zum Aufstehen zu bewegen.
    Am frühen Morgen rührte sich bei den Trendels so gut wie nichts mehr. Während er sich im Halbdunkel anzog, blieb im Haus jetzt alles still.
    Das wenigstens schätzte er. Diese Ruhe, diese morgendliche Einsamkeit, die an Perfektion grenzte, wenn er in die leere Küche kam und eine große Schale schwarzen Kaffee trank, ohne etwas zu essen – jetzt hatte er niemanden mehr auf der Pelle.
    Seit Lisas Tod hatte sich ziemlich viel verändert.
    Seine Mutter bemühte sich nicht mehr, zum Frühstück nach unten zu kommen. Die Aussicht, am Vormittag ihren Weg zu kreuzen, war gering. Ab und zu begegnete Evy noch seinem Vater in der Küche, doch dann wurde die Atmosphäre sehr schnell bedrückend.
    Am besten verließ man das Haus so schnell wie möglich.
    In der näheren Umgebung gab es zahlreiche Seen, und auf dem Grund eines dieser Seen hatte man Lisa an einem schönen eisigen Februartag gefunden, während die Sonne auf den Gummianzügen der Froschmänner glitzerte und sich rings um ihr Schlauchboot spiegelte wie ein glühender Strom aus Weißgold, der nichts Gutes verhieß.
    Die Polizei hatte versucht, der Familie diesen Anblick zu ersparen, doch Richard Trendel und sein Sohn blieben unverwandt am Ufer stehen, die Füße fast im Wasser, das Haar von jähen Windstößen zerzaust. Laure hatte nicht die Kraft gehabt, aus dem Auto zu steigen.
    Seit jenem Tag frühstückte Evy allein. Da die Küche nach Osten ging, sah er oft, wie die ersten Sonnenstrahlen auf dem Nadelkleid der Fichten, die die Straße säumten, funkelten oder im Swimmingpool der Nachbarn glitzerten, und Evy dachte, daß es besser so war, daß es die beste Lösung war.
    Den Mädchen aus seiner Klasse gefiel er, und sie blickten ihm manchmal mit begierigen Lippen tief in die Augen, aber der Zweifel, der Lisas Tod umhüllte, dämpfte ihre Unternehmungslust ein wenig und ließ sie nicht ganz so kühn vorgehen wie gewöhnlich. Ich beobachtete das alles mit großem Interesse.
    Niemand behauptete, Evy habe seine Schwester umgebracht. Lisas Leiche trug keine Spuren von Gewalt, und man hatte sie nicht nackt gefunden, wie manche zartfühlenden Seelen geflüstert hatten, aber niemand war Zeuge der Tat gewesen, niemand konnte bekräftigen, was Evy sagte – genausowenig wie ich zu jenem Zeitpunkt. Alle nahmen es ihm ein bißchen übel, daß sie gezwungen waren, ihm aufs Wort zu glauben, aber was blieb ihnen schon anderes übrig?
    Es war ein Unfall. Ein unglücklicher Sturz in eisiges Wasser. Mehr hatte er nie darüber verlauten lassen und hatte stets auf dieser Version beharrt. Er fragte, was für Einzelheiten sie denn wissen wollten, sprach von einer falschen Bewegung, vom Verlust des Gleichgewichts, von einem tragischen Sturz über Bord, mehr sagte er dazu nicht und sah nicht recht, was er dem hinzufügen solle. Selbst auf die Gefahr hin, für leicht schwachsinnig gehalten zu werden.
    Eines Abends geriet seine Mutter über sein hartnäckiges Schweigen so in Rage, daß sie aufloderte wie ein mit purem Whisky begossenes Pulverfaß. Sie packte ihn, schüttelte ihn wie besessen und betäubte ihn mit ihren Schreien, wobei sie ihn reichlich mit Speichel und Tränen besprühte, sie hatte gehofft, mehr aus ihm herauszubringen, aber sie erhielt keinerlei weitere Informationen. Evy hatte nicht versucht, den Schlägen auszuweichen, die seine Mutter auf ihn einhageln ließ, sie erreichte nichts damit.
    Schließlich griff Richard ein. Er hielt seine Frau zurück und bemühte sich, eine Weile den Blick seines Sohnes zu ergründen. Er wollte es mit einer anderen Methode versuchen und fuhr mit Evy an einem friedlichen Nachmittag ans Seeufer. »Weißt du, daß uns das guttun würde, deiner Mutter und mir?« sagte er zu ihm.
    Richard ließ die Hände auf dem Steuer liegen, und Evy klemmte seine Finger in die Achselhöhlen, sie beobachteten gut zehn Minuten lang einen Bussard, der langsam über den Wäldern kreiste, und danach machte Richard abrupt kehrt.
    Um noch einmal auf die Mädchen zurückzukommen, sie waren nicht alle der Ansicht, daß Lisas Tod ein unersetzbarer Verlust war.
    Als sich Richard und Laure gegen Mitte der achtziger Jahre in dieser Gegend niederließen, hatten sie noch keine Kinder, und die Welt lag ihnen praktisch zu Füßen. Laure tat

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