Wenn aus Verlangen Schicksal wird
1. KAPITEL
Der Teufel war zur Beerdigung ihres Vaters gekommen.
Obwohl es eigentlich eine Beleidigung für den Teufel war, Aristedes Sarantos so zu nennen, dachte Selene Louvardis.
Aristedes Sarantos. Aufgewachsen als mittelloser Niemand zwischen den Kaimauern von Athen, hatte er einen kometenhaften Aufstieg hingelegt. Heute war sein Name in der Schiffsbauindustrie, aber auch weit darüber hinaus in aller Munde. Ein Name, den man voller Ehrfurcht flüsterte. Ein Mann, dessen Anwesenheit man nicht ignorieren konnte. Eine Streitmacht, vor der sich jeder fürchtete.
Jeder bis auf ihren Vater.
Über zehn Jahre lang, seit Selene siebzehn gewesen war, war kaum eine Woche vergangen, in der sie nicht von einer weiteren Schlacht in dem Krieg gehört hatte, den ihr Vater mit dem damals Siebenundzwanzigjährigen geführt hatte. Dieser Mann hätte der wertvollste Verbündete ihres Vaters werden können – hatte sich aber zu seinem erbittertsten Feind entwickelt.
Jetzt war der Krieg vorbei. Ihr Vater war tot. Lang lebe der König.
Wenn es ihren Brüdern nicht gelang, ihre Differenzen beizulegen, würde Aristedes Sarantos das Imperium der Louvardis im Handumdrehen dem Erdboden gleichmachen. Ohne Einigkeit zwischen ihren Brüdern würde Aristedes die uneingeschränkte Herrschaft erlangen.
Seine Anwesenheit bei der Beerdigung hatte Selene völlig überrascht. Als die Trauergemeinde an diesem stürmischen New Yorker Septembertag auf dem Friedhof angekommen war, hatte er bereits da gestanden. Er hatte Abstand zu ihnen gehalten, und sein schwarzer Mantel hatte den großen muskulösen Körper umflattert wie ein Rabe oder eine gequälte Seele – ein Anblick, als wäre Sarantos tatsächlich der Leibhaftige.
Eigentlich hatte sie gedacht, dass er gleich nach der Beerdigung wieder verschwinden würde. Doch er war der Trauergemeinde zum Familiensitz der Louvardis gefolgt. Seit einigen Minuten beobachtete er bereits die Szene von der Türschwelle aus und wirkte wie ein General am Rand des Schlachtfelds, der versuchte, den Ausgang des Kampfes abzuschätzen.
Und dann, gerade als sie glaubte, dass er sich nun abwenden und gehen würde, kam Sarantos näher.
Atemlos beobachtete sie, wie die Besuchermenge sich vor ihm teilte. In körperlicher Hinsicht konnten allein Selenes Brüder ihm das Wasser reichen – alle anderen wirkten neben ihm klein und unbedeutend. Auf jedem anderen Gebiet war er konkurrenzlos.
Ihre Brüder trugen ihren gesellschaftlichen Status wie eine zweite Haut. Selene wusste, dass Frauen die Louvardis-Söhne so unwiderstehlich fanden wie Motten das Licht. Ihrer eigenen Meinung nach hatten ihre Brüder allerdings nichts von Sarantos’ magischer Anziehungskraft, seinem erbarmungslosen Charisma, der faszinierenden Gefahr, die er ausstrahlte.
Auch jetzt traf Selene eine überwältigende Welle des Verlangens. Aristedes Sarantos war verführerisch, bezwingend, unentrinnbar.
Ihre Brüder waren die Einzigen, die nicht vor ihm zurückwichen. Stattdessen starrten sie ihn mit einer Feindseligkeit an, die sich über zehn Jahre aufgebaut hatte. Selene befürchtete, Damon, der Jüngste der drei, könnte Sarantos abfangen und ihn vor die Tür setzen. Sein Gesichtsausdruck verriet, wie schwer es ihm fiel, sich zurückzuhalten. Doch schließlich tat er es seinen älteren Brüdern gleich und strafte Sarantos mit Missachtung.
Plötzlich hatte Selene ihre Geschwister unendlich satt.
Ganz egal was sie tatsächlich dachten oder fühlten, allein aus Respekt vor ihrem Vater hätten sie sich so verhalten müssen, wie er es getan hätte. Und nie im Leben wäre Hektor Louvardis einem Gast so abweisend und verächtlich gegenübergetreten – nicht einmal seinem Erzfeind Sarantos.
Gerade wollte sie ihren ältesten Bruder Nikolas ermahnen, seine Rolle als neues Familienoberhaupt zu wahren und die Kondolenz gnädig entgegenzunehmen, da traf es sie wie ein Schlag: Sarantos kam direkt auf sie zu.
Als sein stählerner, durchdringender Blick den ihren traf, erstarrte sie.
Ihr stockte der Atem. Sie konnten keinen klaren Gedanken mehr fassen, während Sarantos sich mit langen, kraftvollen Schritten näherte. Nur schemenhaft nahm sie wahr, dass die Gäste die Szene neugierig beobachteten.
Dann stand er vor ihr, und mit ihm schien die ganze Welt stillzustehen. Plötzlich gab es nichts mehr außer seiner beeindruckenden, hoch aufragenden Gestalt. Selene fühlte sich winzig und zerbrechlich, obwohl sie alles andere war als das.
Mit ihren
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