Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Frühreifen (German Edition)

Die Frühreifen (German Edition)

Titel: Die Frühreifen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philippe Djian
Vom Netzwerk:
sich Schlag auf Schlag in zwei aufsehenerregenden Rollen hervor, so daß sie von jenem Augenblick an zu den zwei oder drei besten Schauspielerinnen ihrer Generation zählte – ihre verblüffende Verkörperung der tyrannischen Schwester im letzten Film von Raúl Ruiz brachte ihr einen Anruf von Martin Scorsese ein. Und Richard schrieb regelmäßig Romane. Für das Buch, an dem er zu jener Zeit gerade arbeitete, hatte er den Gegenwert von siebenhundertfünfzigtausend Euro erhalten.
    Aber all das lag lange zurück. Richard hatte in der Zwischenzeit Drogenprobleme gehabt – mit Heroin sowie mit gewissen Cocktails –, und Laure, die überzeugt war, daß ihr Erfolg in Form einer steil ansteigenden Kurve verlaufen würde, hatte es an Wachsamkeit und Urteilsvermögen fehlen lassen.
    Das Wohnzimmer war mit einer großen Auswahl an Erinnerungsstücken aus rosigen Zeiten geschmückt. Wenn Evy die Fotos seiner Mutter betrachtete – deren hinreißendes Lächeln eine ganze Wand bedeckte – oder die verschiedenen Auszeichnungen, die Richard bekommen hatte, wie etwa den in Japan errungenen, heiß begehrten Preis, fragte er sich, warum sich seine Eltern so quälten.
    Das Haus lag auf einer Anhöhe außerhalb der Stadt, und die säuselnde Vegetation umhüllte es in der erstaunlich lang andauernden, schwermütigen Oktoberhitze mit ihrem Moschusduft. Der Himmel blieb von morgens bis abends strahlend blau. Nachts, beim Sirren der Insekten, ging Laure auf ihren Balkon, um Luft zu schnappen – und nicht um die Landschaft zu bewundern, die sie seit dem Tod ihrer Tochter zutiefst haßte. Evy hörte, wie sie stöhnte oder wie sie Judith Beverini, von der sie sich kurz zuvor verabschiedet hatte, ihr Leben erzählte.
    Judith Beverini war so ziemlich die einzige, die Laure noch blieb, eine der wenigen, die sie in ihrem langsamen und unaufhaltsamen Abstieg nicht im Stich gelassen hatten – in den letzten zwölf Monaten hatte Laure in einer Fernsehserie mitgespielt, der Rest war nicht einmal erwähnenswert. Judith gehörte zu jenen, die Evy für schuldig hielten. Sie wußte zwar nicht recht, was man ihm vorwerfen konnte, aber für sie war er auf die eine oder andere Weise schuldig – den Grund dafür konnte sie nicht angeben.
    Das war im übrigen die allgemeine Ansicht, was Evy anging, man begegnete ihm mit einer Mischung aus Mitleid und Vorwürfen, gegen die er sich nicht wehren konnte. Wenn er morgens an Judiths Haus vorbeiging, spuckte er auf ihre Türschwelle, und Andreas spuckte ebenfalls.
    Etliche Manager und Führungskräfte hätten ohne zu zögern Vater und Mutter die Gurgel durchgeschnitten, um hier auf diesem Hügel wohnen zu können – in diesem grünen Paradies mit unzähligen Schattierungen, unzähligen Baumarten, schicken Privatwegen, hochgeschätzten abendlichen Empfängen und improvisierten Festen, auf denen man Schauspielerinnen, Produzenten, Schriftstellern, Filmregisseuren, Tänzern, Musikern, Theaterbesitzern, Modeschöpfern und dergleichen mehr begegnete –, aber das würde ihnen natürlich nie gelingen.
    Andreas’ Großvater hatte den Grundstein zu dieser Künstlerkolonie gelegt, die sich zu Beginn der fünfziger Jahre entfaltet hatte. Nachdem er in Deutschland ein Vermögen erworben hatte, kaufte er den ganzen Hügel auf, während sich die Vororte immer weiter ausbreiteten und deren Bewohner begehrlich auf die sonnigen, leider nicht zur Bebauung freigegebenen Anhöhen schielten – doch sein Vorfahr verfügte über enorme Mittel, hatte während des Krieges viel Geld in der Schweiz angelegt und konnte daher mit ein wenig Unverfrorenheit die Probleme lösen. Doch dann begann seine Frau unter der Einsamkeit und der für jemanden wie sie, die jahrelang in Paris gelebt und so viele Berühmtheiten in ihrem Haus bewirtet hatte, furchtbar beschränkten provinziellen Gesinnung zu leiden, so daß er den Hügel in Parzellen aufteilte und diese als Bauland verkaufte, jedoch nicht an irgendwelche x-beliebigen Leute, selbst heute noch nahmen die Miteigentümer jeden Neuankömmling in ihrem Kreis unter die Lupe – eine Praxis, die zwar skandalös war, es aber erlaubte, den Charakter der Gegend zu bewahren und gute nachbarschaftliche Beziehungen aufrechtzuerhalten.
    Richard und Laure waren wenigstens klug genug gewesen, ihr Geld in den Kauf eines Hauses zu investieren, ehe ihr langsamer, unaufhaltsamer kläglicher Abstieg begann, der nach der Geburt ihrer Kinder einsetzte. Manchmal wußten sie es zu schätzen, daß sie keine

Weitere Kostenlose Bücher