Die fünf Seelen des Ahnen (German Edition)
die Nacht hinein. Aber es gab
nicht das geringste Lebenszeichen. Am Ende schwand selbst die Hoffnung,
Caravans Leichnam in der Wasserweite finden zu können.
Serail bewegte sich die ganze Zeit
über nicht vom Fleck, starrte ins Nichts und bemerkte kaum die Besorgnis des
Flugleiters, der immer wieder angespannt zu ihm herüber sah. Er war in seinem
persönlichen Alptraum gefangen, es wurde Nacht, es wurde Morgen, und während
all dieser Zeit hatte er keinen Muskel gerührt.
In seinem Inneren breitete sich
eine betäubende Leere aus. Seine Gefühle wurden von einer eisigen Kälte
überdeckt, die er von der Außenwache her kannte. Er verfolgte teilnahmslos, wie
er immer weiter von jeder menschlichen Regung abgeschnitten wurde, wie sich die
rettende Depression schmerzlos um seine Gedanken legte. Er kannte diesen
Zustand und begrüßte ihn. Bald war nur noch ein einziges Gefühl übrig
geblieben: die Sucht nach dem Strom. Der bohrende Wunsch, die Realität aus
seinem Gehirn waschen, sein Bewusstsein mit Reizen zu überfluten, bis die Sinne
verlöschten. Aber hier gab es keinen Zugang zum Strom. Der Flieger war nicht
verkabelt, und außerdem hatte Caravan ihn immer beschworen, sich nicht in den
Rausch zu flüchten. Liebevoller, besorgter, vernünftiger ...
Die Besatzung fuhr erschrocken
zusammen, als Serail anfing zu schreien. Nur durch einen Nebel war ihm bewusst,
dass er um sich schlug, als man ihm helfen wollte. Er rang stoßweise nach Atem,
und es klang, als würde er an seiner eigenen Verzweiflung ersticken.
Schließlich wurde er auf den Boden gezerrt. Drei Mannschaftsmitglieder hielten
ihn fest und entblößten seinen Oberarm. Der Flugleiter hatte die Spritze mit
dem Beruhigungsmittel schon bereit gehalten.
Randori saß in ihrer Kabine auf einer
Schilfmatte und versuchte vergeblich, sich auf die Verwaltungsakten zu
konzentrieren. Normalerweise empfand sie den Arbeitsplatz in ihrer Kabine als
beruhigend. Er war im japanisch schlichtem Stil eingerichtet und schuf eine
meditative Atmosphäre. Reispapierwände schirmten sie vor allen Ablenkungen ab,
ein kunstvolles Blumengesteck war der einzige Schmuck. Die fünf Lilienblüten in
einem offenen Gefäß zogen den Blick auf sich und halfen Randori, ihre Gedanken
zu sammeln. Aber heute fiel es ihr schwer, mit dem Strom zu schwimmen, sie war
unzufrieden und gelangweilt.
Sie hatte bei ihrer Bürotätigkeit
eine Haltung eingenommen, die einen Außenstehenden eher an Yoga erinnert hätte.
Mit gekreuzten Beinen saß sie auf der Schilfmatte, die Hände gefaltet und
starrte ins Leere. Gleichzeitig aber waren ihre Gedanken fieberhaft beschäftigt.
Sie hatte das Implantat ausgeschaltet und blätterte durch Akten, die vor ihrem
inneren Auge vorüberglitten, strich Absätze, fügte Anmerkungen hinzu. Nebenbei
benutzte sie einen altmodischen Füller, um sich im Realraum Notizen zu machen. –
Auf Stromdateien konnte man nicht gereizt herumkauen. Irgendwann warf sie den
Füller gegen die Wand.
Das spitze Geschoss hinterließ ein
Loch im Reispapier, und Randori ärgerte sich über ihre Unbeherrschtheit. Sie
war nicht glücklich mit ihrer neuen Aufgabe.
Sie hatte nicht gewusst, wie viel
stupider Papierkram nötig war, um das Schiff am Laufen zu halten.
Wahrscheinlich war Lazarus heilfroh, dass sie ihm diesen Job abgejagt hatte.
Zumal Randori das Gefühl nicht los wurde, dass der Ex-Kapitän immer noch
sämtliche Fäden zog. Er war grundsätzlich schneller informiert als sie.
Widerwillig las sie den nächsten
Absatz: ‚Die Wohnverwaltung beantragt die Räumung von zehn Passagierquartieren
in Sektor P74-75, um eine unabhängige Klimaanlage für den Stadtteil 345.1
Mandela zu installieren. Nach Paragraph 264 …’
Gestern zum Beispiel hatte es eine
Demonstration der Eremiten gegeben, und natürlich war Lazarus schon an Ort und
Stelle gewesen, als sie ankam. Es war peinlich, wenn die Kapitänin des Schiffes
immer erst als Zweite auftauchte. Sie hatte damit gerechnet, die versammelten
Ökofanatiker randalierend durch die Gänge ziehen zu sehen, und sie hatte
bereits zusätzliche Polizeikräfte angefordert. Aber stattdessen fand sie Lazarus,
der als knabenhafte Gestalt inmitten der Menge stand und eine flammende Rede hielt.
Die Eremiten hatten geklatscht. Einige hatten um Autogramme gebeten. Randori
konnte es nicht glauben.
Frustriert stand sie auf und
streckte sich. Sie war es gewohnt, auf dem Boden zu sitzen, aber nach ein paar
Stunden Arbeit fühlte sie sich dennoch steif.
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