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Die fünf Seelen des Ahnen (German Edition)

Die fünf Seelen des Ahnen (German Edition)

Titel: Die fünf Seelen des Ahnen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrike Nolte
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Wänden hatte zwei
grundsätzlich unterschiedliche Funktionsbereiche: Zum einen gab es das Informationsnetz,
das an jedem Ort im Schiff empfangen werden konnte. Jeder konnte sich die Akten
heraussuchen, die Randori vorhin bearbeitet hatte, und ihre Notizen dazu lesen.
Auch ihre privaten Aufzeichnungen, ihre Sammlung von alten Kung Fu-Filmen, ihre
Parfumrezepte für den Recycler hatte sie ganz selbstverständlich im Netz
abgespeichert.
    Auf der anderen Seite gab es die
Designer-Programme, die fest an bestimmte Orte gebunden waren. Der
Sternenhimmel für die Außenwache wurde nur von den Wänden der Schiffsbrücke
abgestrahlt. Die Schnellstraße von Passagierstadt 3.2 Navratilova führte durch
eine Simulation des Grand Canyon, die sich auflöste, sobald man an einer
Kreuzung abbog. Jeder Meter Wand auf der Arche erzeugte seine eigene, ortsgebundene
Illusion.
    Das Besondere an Randoris
Badezimmer war, dass es beide Eigenschaften des Stroms miteinander verband. Von
hier aus konnte sie sich in einen Teil des Informationsnetzes einklinken, der
nur von bestimmten Wänden aus erreichbar war. Vertrauliche Mitteilungen an die
Kommandantin wurden ausschließlich an dieser Stelle abgestrahlt, einen Meter
über dem Boden ihrer Duschwanne. Es war ein einfaches, aber effektives Mittel
der Geheimhaltung.
    Randori schloss die Augen und
wanderte die Datenpfade entlang, bis sie bei ihrer Mailbox angekommen war. Sie
öffnete den Deckel des Briefkastens und nahm ein Blatt Papier heraus. Es
knisterte in ihrer Hand, als sie es auseinander faltete. Lazarus Botschaft war
kurz und alarmierend:
    ‚Vermisster Matrose gefunden.
Unfallursache nicht geklärt. Manipulationen durch eine fremde Intelligenz nicht
ausgeschlossen.’
     

 
    Kieme
     
    „Der Ahne besaß viele Leben“, sagte
die sanfte Stimme. „Wenn ich seine früheste Existenz beschreibe, werde ich ihn
‘Kieme’ nennen, denn mehr war er damals nicht: nur ein Atemorgan. Kieme kroch
zusammen mit seinem übrigen Körper die Unterseite des Eises entlang. Am Rande des
Polarmeeres war die Schollendecke dünn und brüchig. Das Licht der Sonne fiel
hindurch und ließ die vereiste Unterwasserlandschaft in einem tiefen Blauton
erstrahlen.
    Über die zerklüftete Unterfläche
des Packeises bewegte sich langsam der schneckenartige Körper, zu dem Kieme
gehörte. Die Saugnäpfe schoben den Körper vorwärts, die Münder weideten den
Pflanzenteppich ab, der durch das Licht entstanden war. Das Kiemenstück atmete.
Es dachte nicht.
    Das Denken wurde von einem anderen
Teil des Körpers übernommen, der gerade jetzt einen Befehl gab: ‘Umgruppieren.’
    Vor ihnen lag eine enge Spalte,
die mit Nahrung dicht bewachsen war. Der Körper passte nicht hinein, doch das
änderte sich nun. Kieme wanderte langsam weiter nach hinten, und andere Teile
des Gruppenorganismus folgten, bis ihre Gesamtgestalt langgestreckt und schmal
genug war, um die Pflanzen zu erreichen. Die Münder fraßen. Kieme atmete.
    Sein Leben dauerte bereits ein knappes
Jahrhundert, auch wenn es nichts davon wusste. Inzwischen war es der älteste
Teil dieses Körpers und reif für die Verwandlung. Ein weiterer Befehl wurde
gegeben: ‘Auswechseln.’
    Kieme konnte spüren, wie sich der
übrige Körper von ihm ablöste. Die anderen krochen in gleichmäßigem Tempo
davon, während es selbst allein im Wasser trieb. Es war hilflos und verwirrt,
blind und taub. Dann übernahmen alte Instinkte die Kontrolle.
    Erinnerungen an eine frühere Zeit
des Einzellebens flackerten in seinem Bewusstsein auf, an eine kurze Phase nach
der Geburt ... Kieme erinnerte sich an Sinnesorgane, Augen öffneten sich.
Saugnäpfe schoben sich aus seiner Unterseite, suchten das Eis und hafteten sich
fest. Kieme begann, vorwärts zu kriechen.
    Es hatte kein Gefühl für Zeit,
aber mehrere Tage vergingen, bis es an eine Stelle gelangte, die anders war.
Kieme spürte Neugier, seine Intelligenz regte sich. Freies Wasser. Die dünne
Eisschicht war aufgebrochen worden, vielleicht von einem Tier. Ein Gefühl von
Erregung breitete sich aus. Wissen strömte in Kieme ein, Nervenbahnen wuchsen
und verzweigten sich. Was mochte passieren, wenn man durch die Öffnung hindurch
kroch? Das war ein aufregender Gedanke.
    Kieme zog sich mit seinen
Saugnäpfen über den Rand, seine Atmung stellte sich automatisch um. Vor ihm lag
eine weite weiße Fläche. Sie ragte in gezackten Formen in tiefes Blau hinein,
das nirgendwo zu enden schien. Es war wunderschön.
    Seine Augen suchten den

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