Die Furcht des Weisen / Band 1
Bedeutungen haben konnte.
Ich lernte die beiden entscheidend wichtigen Sätze »Was bedeutet das?« und »Sag das bitte noch einmal langsamer«, außerdem zwei Dutzend wichtige Wörter, darunter kämpfen, sehen, tanzen, Schwert und Hand. Die Pantomime, die ich aufführen musste, bis Tempi verstand, was »Hand« und »tanzen« bedeuteten, brachte uns beide zum Lachen.
Die neue Sprache faszinierte mich. Dass man dieselben Wörter verschieden aussprechen konnte, war eine musikalische Eigenschaft der Sprache. Ich fragte mich unwillkürlich …
»Tempi? Wie klingen eure Lieder?« Er sah mich verwirrt an. Offenbar verstand er die abstrakte Frage nicht. »Kannst du mir ein Lied der Adem vorsingen?«
»Was ist ein Lied?« Tempi hatte in der vergangenen Stunde doppelt so viele Wörter gelernt wie ich.
Ich räusperte mich und sang:
Die kleine Barfuß-Jenny zog mit dem Wind durchs Land.
Sie schaute, ob sie einen frischen Bub zum Lachen fand.
Ein Federmützchen auf dem Kopf, ein Pfeifen auf den Lippen,
Die Lippen feucht und honigsüß, die Zunge spitz zum Schnippen.
Während ich sang, wurden Tempis Augen immer größer. Zuletzt starrte er mich entgeistert an.
»Jetzt du.« Ich zeigte auf ihn. »Kannst du ein Lied der Adem singen?«
Er wurde feuerrot, und auf seinem Gesicht mischten sich ein Dutzend heftiger Gefühle wie Staunen, Entsetzen, Verlegenheit, Erschütterung und Abscheu. Er stand auf, wandte sich ab und sagte hastig etwas auf Ademisch, allerdings so schnell, dass ich ihm nicht folgen konnte. Er tat so, als hätte ich ihn soeben aufgefordert, sich vor mir nackt auszuziehen und zu tanzen.
»Nein«, sagte er, nachdem er sich ein wenig beruhigt und sein Gesicht wieder unter Kontrolle hatte. Die Haut war allerdings noch tiefrot. »Nein.« Er blickte zu Boden, fasste sich an die Brust und schüttelte den Kopf. »Kein Lied. Kein Lied der Adem.«
|758| Ich wusste nicht, was ich falsch gemacht hatte, und stand ebenfalls auf. »Es tut mir leid, Tempi.«
Tempi schüttelte den Kopf. »Nein, nicht nötig.« Er holte tief Luft und wandte sich kopfschüttelnd zum Gehen. »Kompliziert.«
|759| Kapitel 81
Der eifersüchtige Mond
A n diesem Abend schoss Marten drei dicke Kaninchen. Ich hatte Wurzeln ausgegraben und einige Kräuter gesammelt, und noch vor Sonnenuntergang versammelten wir uns zu einem köstlichen Nachtmahl aus Fleisch, zwei frischen Brotlaiben, Butter und einem krümeligen Käse, der aus der Gegend kam und keinen eigenen Namen besaß.
Es war ein sonniger Tag gewesen. Entsprechend gut war die Stimmung, und beim Essen wurden wieder Geschichten erzählt.
Hespe erzählte eine überraschend romantische Begebenheit von einer Königin, die sich in einen Diener verliebt. Sie sprach mit großer innerer Anteilnahme und warf Dedan dabei zärtliche Blicke zu.
Dedan jedoch bemerkte nichts davon. Mit einer Begriffsstutzigkeit, wie ich sie nur selten erlebt habe, begann er seinerseits eine Geschichte zu erzählen, die er im Wirthaus ZUM GÜLDENEN PENNY aufgeschnappt hatte. Sie handelte von Felurian.
»Der Junge, von dem ich sie habe, war höchstens so alt wie unser Kvothe«, sagte er. »Und wenn ihr ihn gehört hättet, wüsstet ihr, dass er sie nicht erfunden hat.« Er klopfte sich vielsagend an die Schläfe. »Aber hört selbst und entscheidet, ob ihr ihm glauben wollt.«
Dedan konnte wie gesagt gut reden und hatte mehr Verstand, als man annehmen könnte, vorausgesetzt er gebrauchte ihn. Leider war das an diesem Abend nicht der Fall.
»Die Menschen haben seit undenklichen Zeiten Angst vor diesem Wald. Doch nicht weil sie fürchten, sich darin zu verirren oder ausgeraubt zu werden, nein.« Dedan schüttelte den Kopf. »Sie behaupten vielmehr, hier wohne das Volk der Fae. Kobolde mit Hufen, die bei |760| Vollmond tanzen, dunkle Wesen mit langen Fingern, die Säuglinge aus Wiegen rauben. Viele Frauen stellen ihnen nachts Brot und Milch vor die Tür. Und viele Männer bauen ihre Häuser so, dass alle Türen in einer Reihe nebeneinander liegen. Man könnte diese Menschen abergläubisch nennen, aber sie kennen die Wahrheit. Am sichersten ist es, den Fae auszuweichen, doch wenn das nicht gelingt, muss man sie sich gewogen halten. Meine Geschichte handelt von Felurian, der Herrin des Zwielichts und der Ersten Stille, von Felurian, dem Tod der Männer, einem frohen Tod allerdings, in den sie bereitwillig gehen.«
Tempi atmete ein, kaum hörbar zwar, aber umso auffälliger, als er den Geschichten des Abends
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