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Die Furcht des Weisen / Band 1

Die Furcht des Weisen / Band 1

Titel: Die Furcht des Weisen / Band 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Rothfuss
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schweißnass, und er verschwand, um sich zu waschen.
    Jetzt hatte ich das Lager für mich allein. Rasch schmolz ich die Kerzen des Kesslers ein und formte aus dem Wachs zwei kleine Puppen. Ich hatte das schon seit Tagen vorgehabt, aber selbst an der Universität galt die Herstellung solcher Puppen als anstößig, um wie viel mehr also hier in Vintas … Es muss genügen, wenn ich sage, dass ich mit äußerster Diskretion zu Werk gehen musste.
    Das Ergebnis war nicht besonders schön. Talg lässt sich viel schwerer formen als Sympathiewachs, doch selbst die primitivste Puppe kann eine verheerende Waffe sein. Ich verstaute die beiden Puppen in meinem Reisesack und fühlte mich gleich viel besser auf etwaige Gefahren vorbereitet.
    Ich säuberte meine Finger von den letzten Talgresten, als Tempi splitternackt von seinem Bad zurückkehrte. Dank jahrelanger Bühnenerfahrung gelang es mir, die Ruhe zu bewahren, allerdings nur knapp.
    Tempi breitete seine nassen Kleider auf einem Ast zum Trocknen aus und kam ohne das geringste Zeichen von Scham oder Verlegenheit zu mir.
    Er streckte die rechte Hand aus. Daumen und Zeigefinger hatte er zusammengedrückt. »Was ist das?« Er öffnete die Finger ein wenig.
    Ich beugte mich darüber, froh über die Ablenkung. »Eine Zecke.«
    Von Nahem fielen mir wieder die Narben auf, die wie kaum sichtbare Linien Tempis Arme und Brust bedeckten. Ich hatte an der Mediho gelernt, Narben zu lesen. Die von Tempi waren nicht breit, runzlig und rosafarben wie die Narben tiefer Wunden, die durch die verschiedenen Hautschichten und das darunter liegende Fett- und Muskelgewebe gingen. Offenbar hatte es sich um flache Verletzungen gehandelt, dafür Dutzende davon. Ich fragte mich unwillkürlich, wie lange Tempi angesichts so vieler Narben schon Söldner sein mochte. Er wirkte nicht viel älter als zwanzig.
    |767| Ohne meinen forschenden Blick zu bemerken, starrte Tempi auf den schwarzen Punkt zwischen seinen Fingern. »Es beißt mich. Beißt und hängt fest.« Sein Gesicht zeigte wie immer keine Regung, aber in seiner Stimme schwang Abscheu. Seine linke Hand zuckte.
    »Gibt es in Ademre keine Zecken?«
    »Nein.« Er wollte die Zecke mit den Fingern zerdrücken. »Geht nicht.«
    Ich zeigte ihm, wie er sie zwischen den Fingernägeln zerquetschen konnte, was er dann auch mit einiger Genugtuung tat. Er warf sie weg und ging zu seinem Schlafplatz. Dort hob er immer noch nackt seine sämtlichen Kleider hoch und schüttelte sie heftig aus.
    Ich hielt den Blick abgewendet und meinte plötzlich gleichsam zu spüren, dass Dedan und Hespe jetzt gleich aus Crosson zurückkehren würden.
    Zum Glück täuschte ich mich. Eine Viertelstunde später zog Tempi eine trockene Hose an, nachdem er sie zuvor sorgfältig untersucht hatte.
    Mit nacktem Oberkörper kehrte er zu mir zurück. »Ich hasse Zecken«, erklärte er.
    Beim Sprechen vollführte er mit der linken Hand eine ruckartige Bewegung, als streife er Krümel von einem Hemd ab. Nur dass er natürlich kein Hemd trug und es von seiner nackten Haut nichts wegzustreifen gab. Außerdem erinnerte ich mich, dass er dieselbe Bewegung schon früher gemacht hatte.
    Bei näherem Nachdenken wurde mir klar, dass er dieselbe Bewegung in den vergangenen Tagen ein halbes Dutzend Mal gemacht hatte, wenn auch nicht so heftig.
    In mir keimte ein Verdacht. »Was bedeutet das, Tempi?« Ich machte die Bewegung nach.
    Er nickte. »Es bedeutet das.« Er verzog das Gesicht zu einer angewiderten Grimasse.
    Meine Gedanken überschlugen sich. Wie oft hatte ich Tempi während unserer Gespräche in der vergangenen Spanne solche merkwürdigen Bewegungen machen sehen! Mir wurde ganz schwindlig.
    |768| »Tempi«, fragte ich, »verwendet man bei euch anstelle der Mimik« – ich zeigte auf mein Gesicht und lächelte, runzelte die Stirn und verdrehte die Augen – »die Hände?«
    Tempi nickte und machte eine Handbewegung.
    Ich zeigte auf die Hand. »Was bedeutet das?«
    Er zögerte und lächelte ein wenig verlegen.
    Ich wiederholte die Geste, spreizte die Finger ein wenig und drückte den Daumen von innen an den Mittelfinger.
    »Nein«, verbesserte er, »mit der linken Hand.«
    »Warum?«
    Er klopfte mir mit seiner Hand unmittelbar links des Brustbeins an die Brust und fuhr anschließend mit dem Finger an meinem linken Arm entlang zu meiner linken Hand. Ich nickte zum Zeichen, dass ich verstand. Die Linke war dem Herzen näher. Tempi hielt die Rechte hoch und ballte sie zur Faust. »Diese Hand ist

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