Die Furcht des Weisen / Band 1
hätte man sie meilenweit gehört.
Auch ein Gespräch mit Tempi wäre denkbar gewesen, aber genauso gut hätte ich mit einem Stein Fangen spielen können.
Doch schien mir nichts anderes übrig zu bleiben. Nach einer Weile schlenderte ich zu ihm hinüber. Er hatte sein Schwert gesäubert und beschäftigte sich mit dem ledernen Griff. »Tempi?«
Tempi legte das Schwert beiseite und erhob sich. Er stand unangenehm nahe vor mir, kaum zwei Handbreit entfernt. Dann runzelte er die Stirn. Oder eigentlich war es weniger ein Stirnrunzeln als ein kaum merkliches Aneinanderdrücken der Lippen und eine kleine |755| Falte zwischen den Augenbrauen, aber aus Tempis sonst so ausdruckslosem Gesicht stach es hervor wie ein mit roter Tinte geschriebenes Wort.
Er trat zwei Schritte von mir zurück, betrachtete den Boden zwischen uns und kam wieder einen kleinen Schritt nach vorn.
Mir kam eine Ahnung. »Wie nahe stehen die Adem denn gewöhlich beieinander, Tempi?«
Tempi starrte mich einen Augenblick verständnislos an, dann brach er in Lachen aus, gefolgt von einem verlegenen Lächeln, das ihn sehr jung aussehen ließ. Das Lächeln verschwand sofort wieder, schwang jedoch in seinen Augen nach. »Eine gute Frage, ja. Das ist verschieden. Bei dir nahe.« Er trat erneut unangenehm nahe an mich heran und wieder zurück.
»Bei mir?«, fragte ich. »Der Abstand hängt von der Person ab?«
Tempi nickte. »Ja.«
»Wie groß ist er bei Dedan?«
Er machte eine Handbewegung. »Schwierig.«
Ich verspürte eine mir bekannte Neugier. »Kannst du mir das beibringen, Tempi? Mich deine Sprache lehren?«
»Ja.« Seine Miene verriet wie immer nichts, aber er klang sehr erleichtert. »Ja, sehr gerne.«
Am späten Nachmittag hatte ich ein Sammelsurium ademischer Wörter gelernt. Die Grammatik war mir nach wie vor ein Rätsel, aber das ist sie am Anfang immer. Sprachen haben allerdings etwas mit Musikinstrumenten gemein: je mehr man kennt, desto leichter lernt man eine neue. Ademisch war meine vierte Sprache.
Unser größtes Problem war, dass Tempi so schlecht Aturisch sprach und wir uns deshalb nur mühsam verständigen konnten. Wir behalfen uns mit Zeichnungen auf dem Boden und heftigem Gestikulieren. Manchmal, wenn Gesten nicht ausreichten, führten wir zur Verdeutlichung des Gemeinten auch kleine Pantomimen auf. Jedenfalls hatte ich unerwartet großes Vergnügen an unserem Sprachkurs.
|756| Eine besondere Schwierigkeit galt es gleich am ersten Tag zu meistern. Ich hatte ein Dutzend Wörter gelernt und überlegte mir, welche Wörter ich noch gebrauchen konnte. Ich ballte die Faust und tat so, als wollte ich Tempi damit schlagen.
»Freacht«,
sagte er.
»Freacht«,
wiederholte ich.
Er schüttelte den Kopf. »Nein,
Freacht.«
»Freacht«,
sagte ich, um eine genaue Aussprache bemüht.
»Nein«, widersprach er entschieden.
»Freacht
ist …« Er bleckte die Zähne und bewegte den Mund, als beiße er von etwas ab.
»Freacht.«
Er schlug mit der Faust in seine offene Hand.
»Freacht«,
sagte ich.
»Nein.« Ich war überrascht, mit welcher Heftigkeit er es sagte.
»Freacht.«
Mein Gesicht wurde heiß. »Das sage ich doch die ganze Zeit.
«Freacht! Freacht! Fre …»
Tempi streckte den Arm aus und schlug mir mit der flachen Hand seitlich leicht an den Kopf. Genau so hatte er Dedan am Abend zuvor geschlagen, und genau so hatte mich auch mein Vater geschlagen, wenn ich mich vor anderen schlecht benahm. Es war ein harmloser Klaps, der nicht wehtat, aber ich war vollkommen verdattert. Seit Jahren hatte das niemand mehr mit mir gemacht.
Noch mehr verwirrte mich, dass ich die Hand nicht hatte kommen sehen. Die Bewegung war so beiläufig und schnell wie ein Fingerschnippen gewesen. Offenbar wollte Tempi mich auch gar nicht kränken, sondern nur meine Aufmerksamkeit wecken.
Er hob seine rotblonden Haare hoch und zeigte auf sein Ohr. »Zuhören«, sagte er fest.
»Freacht.«
Er bleckte wieder die Zähne und machte die beißende Bewegung.
»Freacht.«
Er hob die Faust.
»Freacht.
Freacht.«
Da hörte ich endlich, was er meinte: nicht den Klang des Wortes, sondern seine Tonhöhe und Betonung.
»Freacht?«,
fragte ich.
Er belohnte mich mit einem seiner seltenen Lächeln. »Ja. Gut.«
Anschließend musste ich noch einmal alle Wörter neu lernen und mir auch ihre Betonung einprägen. Davor hatte ich Tempi nur nachgesprochen, ohne ihm genau zuzuhören. Jetzt fand ich heraus, |757| dass jedes Wort abhängig von seiner Betonung verschiedene
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