Die Furcht des Weisen / Band 1
einen Menschen nicht sofort. Doch als ich näher kam, sah ich, dass der Pfeil den Mann mitten ins Herz getroffen hatte. Verblüfft wandte ich mich an Marten. »Ein solcher Schuss hat das Zeug zur Legende«, sagte ich leise.
»Es war Glück«, erwiderte er mit einer abschätzigen Handbewegung und wandte seine Aufmerksamkeit der Kuppe wenige Meter über uns zu. »Hoffentlich habe ich noch welches übrig«, fügte er hinzu und begann hinaufzukriechen.
Ich folgte ihm. Aus dem Augenwinkel sah ich, dass Tempi noch neben dem Toten kniete. Er beugte sich über ihn, als flüstere er ihm etwas zu.
Dann sah ich das Lager, und die seltsamen Bräuche der Adem waren schlagartig vergessen.
|847| Kapitel 91
Feuer, Donner und ein gespaltener Baum
D er Hügelkamm, auf dem wir kauerten, umschloss das Lager der Banditen in einem weiten schützenden Halbrund. Das Lager war gleichsam auf dem Boden einer großen, flachen Schüssel. Auf der gegenüberliegenden, offenen Seite wurde es von einem Bach eingefasst.
In der Mitte der Schüssel ragte wie eine Säule eine mächtige Eiche auf und beschirmte das Lager mit ihren ausladenden Ästen. Rechts und links davon qualmten zwei Feuer. Die Banditen hatten gewaltige Holzstöße aufgeschichtet, doch war das Holz nass und brannte schlecht. Im Schein der Feuer konnte man mit einiger Mühe den Rest des Lagers erkennen.
Auf dem Platz standen sechs kleinere, durchhängende Feldzelte, die wohl überwiegend zum Schlafen und zur Unterbringung der Ausrüstung dienten. Ein siebtes, rechteckiges Zelt war schon fast so groß wie ein kleiner Pavillon. In ihm konnte man zu mehreren aufrecht stehen.
An den Feuern saßen auf provisorischen Bänken und dick gegen den Regen eingemummt sechs Männer mit den harten, leidgeprüften Gesichtern altgedienter Soldaten.
Ich duckte mich wieder unter den Kamm des Hügels. Zu meiner Überraschung verspürte ich keinerlei Furcht. Ich wandte mich an Marten, in dessen Augen ein Flackern getreten war. »Auf wie viele schätzt du sie?«, fragte ich.
Er überlegte. »Auf mindesten zwei Mann pro Zelt. Wenn der Anführer im großen Zelt wohnt, wären das dreizehn. Drei haben wir getötet. Blieben zehn übrig. Mindestens.« Er leckte sich nervös die |848| Lippen. »Aber in den Zelten könnten bis zu vier Mann schlafen und in dem großen Zelt zusätzlich zum Anführer weitere fünf. Das wären dann dreißig minus drei.«
»Also sind sie im günstigsten Fall doppelt so viele wie wir. Können wir es mit ihnen aufnehmen?«
Martens Blick wanderte zum Lager und wieder zu mir. »Zwei zu eins würde ich riskieren. Wir haben die Überraschung auf unserer Seite und sind dicht an ihnen dran.« Er hustete in seinen Ärmel und spuckte aus. »Aber ich habe das Gefühl, dass da unten eher zwanzig Mann sind.«
»Kannst du Dedan davon überzeugen?«
Marten nickte. »Dedan wird mir glauben. Er ist nicht so dumm, wie es manchmal den Anschein hat.«
»Gut.« Ich überlegte kurz. Alles ging schneller, als ich es erzählen kann, und Dedan und Hespe lagen noch fünf oder sechs Minuten hinter uns zurück. »Geh den beiden entgegen und sage ihnen, sie sollen umkehren«, wies ich Marten an. »Dann hole mich und Tempi.«
Marten zögerte. »Wollt ihr nicht lieber gleich mitkommen? Wir wissen nicht, wann die Banditen den Posten auswechseln.«
»Wir sind ja zu zweit. Außerdem bist du nur ein paar Minuten weg. Und ich würde gern noch genauer herausfinden, mit wie vielen Banditen wir es zu tun haben.«
Marten verschwand, und Tempi und ich spähten wieder über den Kamm des Hügels. Dann kroch Tempi näher zu mir, bis ich seine linke Seite an meiner rechten spürte.
Ich bemerkte etwas, das mir bis dahin nicht aufgefallen war. Überall im Lager steckten Pfähle, die etwa so lang waren wie die Pfosten eines hohen Zauns.
»Pfähle?«, fragte ich Tempi und bohrte zur Veranschaulichung einen Finger in den Boden.
Er nickte zum Zeichen, dass er mich verstanden hatte.
Vermutlich dienten sie dazu, Pferde anzubinden oder nasse Kleider zu trocknen. Ich wandte mich drängenderen Problemen zu. »Was sollten wir deiner Meinung nach jetzt tun?«
Tempi schwieg lange. »Einige töten, dann gehen. Auf Verstärkung |849| warten. Wir …« Er verstummte wie immer, wenn ihm das richtige Wort fehlte. »Hinter Bäume springen?«
»Wir sollen sie überraschen?«
Er nickte. »Wir überraschen sie. Dann ziehen wir uns zurück und informieren den Maer.«
Ich nickte. Es war zwar nicht die erhoffte schnelle Lösung,
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