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Die Furcht des Weisen / Band 1

Die Furcht des Weisen / Band 1

Titel: Die Furcht des Weisen / Band 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Rothfuss
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zweiter Pfeilhagel über den Kamm.
    »Was tun wir?«, wiederholte Marten. »Was ist, wenn sie verletzt sind?«
    Und wenn sie tot sind?
Ich schloss die Augen und zog mich ein Stück hinter den Kamm zurück. Mit dem Fuß stieß ich an etwas Weiches, Schweres. Den toten Posten. Da wusste ich auf einmal, was ich zu tun hatte. Ich holte Luft und versenkte mich tief in das Steinerne Herz, tiefer, als ich es je getan hatte. Furcht und Unsicherheit fielen von mir ab.
    Ich packte den Toten am Handgelenk und zerrte ihn zum Kamm hinauf. Er war schwer, aber ich bemerkte es nicht. »Darf ich deinen Toten verwenden, Marten?«, fragte ich geistesabwesend. Es klang ganz freundlich und entspannt, ich hatte noch nie eine so ruhige Stimme gehört.
    Ohne auf eine Antwort zu warten, blickte ich in das Lager hinunter. Einer der Männer hinter dem Holzzaun spannte gerade den Bogen, um wieder zu schießen. Ich zog mein langes schmales Messer aus hartem Ramston-Stahl und prägte mir das Bild des Schützen ein. Dann biss ich die Zähne zusammen und bohrte das Messer dem toten Wachposten in eine Niere. Es drang nur langsam ein, wie in schweren Lehm.
    Ein Schrei gellte durch das Rumpeln des Donners. Der Mann im Lager fiel auf die Knie und warf den Bogen weg. Einer seiner Kameraden beugte sich über ihn. Ich konzentrierte mich auf den Kameraden und stach den Posten in die andere Niere, diesmal mit beiden Händen. Ein zweiter Schrei ertönte, lauter noch als der erste.
Ein Geheul,
dachte ich. Mir war, als stehe ich neben mir.
    »Noch nicht schießen«, sagte ich ganz ruhig zu Marten, ohne den Blick vom Lager abzuwenden. »Sie haben uns noch nicht entdeckt.« |852| Ich zog das Messer heraus, konzentrierte mich auf den nächsten Banditen und stach ihn dem Toten ungerührt ins Auge. Ein Mann sprang hinter der Holzwand auf und schlug sich die Hände vors Gesicht. Zwischen den Fingern strömte Blut heraus. Zwei seiner Kameraden standen ebenfalls auf, um ihn wieder hinter die Wand zu ziehen. Ich hob und senkte das Messer, und einer der beiden stürzte und riss im Fallen die Hände an sein blutüberströmtes Gesicht.
    »Gütiger Gott«, rief Marten erstickt. »Gütiger Gott.«
    Ich setzte dem Toten die Klinge an die Kehle und ließ den Blick durch das Lager wandern. Unter den Banditen breitete sich Panik aus, und ihre militärische Disziplin begann sich aufzulösen. Einer der Verwundeten wollte sich nicht beruhigen. Spitz gellten seine Schreie durch den Donner.
    Ein Bogenschütze suchte mit zusammengekniffenen Augen den Hügelkamm ab. Ich zog dem toten Posten die Klinge über die Kehle, doch nichts geschah. Dann hob der Bogenschütze verwirrt die Hand an seinen Hals. Als er sie wieder senkte, war sie ein wenig blutig. Er begann erschrocken etwas zu rufen, ließ seinen Bogen fallen und rannte hinter der niedrigen Bretterwand hin und her. Er wollte fliehen, wusste aber nicht wohin.
    Doch dann riss er sich zusammen und suchte erneut den Kamm der Anhöhe ab, die das Lager umschloss. Offenbar hatte ich ihn nicht ernsthaft verletzen können. Ich runzelte die Stirn, setzte die Klinge wieder an den Hals des toten Postens und stützte mich mit meinem ganzen Gewicht darauf. Meine Arme zitterten, und das Messer drang nur langsam vor, als versuchte ich einen Eisblock zu zerschneiden. Endlich strömte Blut aus dem Hals des Schützen, und er riss die Hände hoch. Er stolperte, stürzte und fiel in eins der Feuer. Dort schlug er wie wild um sich. Brennende Scheite flogen in alle Richtungen und vermehrten das Durcheinander.
    Ich überlegte, wen ich als Nächstes ausschalten sollte. Wieder zuckte ein Blitz über den Himmel und beleuchtete die Leiche vor mir in allen Einzelheiten. Überall war Blut, mit Regen vermischt. Es klebte auch schwarz an meinen Händen.
    Da ich nicht die Hände des Toten verstümmeln wollte, rollte ich ihn auf den Bauch und zog ihm die Stiefel von den Füßen. Dann |853| nahm ich mein nächstes Opfer ins Visier und durchtrennte die dicken Sehnen oberhalb der Knöchel und hinter den Knien. Auf diese Weise machte ich zwei weitere Männer kampfunfähig. Doch die Klinge schnitt immer schlechter, und meine Arme schmerzten vor Anstrengung. Mit der Leiche hatte ich zwar eine hervorragende Verbindung, aber als Kraftquelle stand mir nur mein Körper zur Verfügung. Inzwischen war mir, als schneide ich Holz und nicht menschliches Fleisch.
    Seit dem Alarm waren kaum mehr als eine oder zwei Minuten vergangen. Ich spuckte Wasser aus und gönnte meinen

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