Die Furcht des Weisen / Band 1
mühelos, als hätte ich eine Maske abgenommen. Natürlich wusste er nicht, welches Gesicht das echte war, das des Jugendlichen oder das Taborlins, das nur ganz kurz sichtbar gewesen war.
Ich wandte mich ab, bevor er sich wieder gefasst hatte. »Marten kundschaftet den Weg aus, Tempi und ich folgen ihm mit fünf Minuten Abstand. Dann kann er uns noch warnen, wenn er das Lager entdeckt. Ihr beide folgt uns mit zehn Minuten Abstand.«
Ich blickte Dedan vielsagend an, hob die Hände und spreizte die Finger. »Zehn volle Minuten. Das kostet uns Zeit, ist aber am sichersten. Noch Vorschläge oder Einwände?« Alle schwiegen. »Gut, dann geh los, Marten. Wenn es Schwierigkeiten gibt, kehrst du um.«
»Darauf kannst du dich verlassen«, antwortete er und verschwand in dem Gewirr aus Grün und Braun, aus Laub, Rinde, Fels und Regen.
Es regnete unvermindert weiter und dämmerte bereits, als Tempi und ich uns auf den Weg machten und von einem Busch zum anderen huschten. Wenigstens brauchten wir nicht leise zu sein, denn über uns donnerte es fast unentwegt.
Marten tauchte ohne Vorwarnung vor uns aus dem Unterholz auf und winkte uns unter das Blätterdach eines schief gewachsenen Ahorns. »Das Lager der Banditen liegt direkt vor uns«, sagte er. »Es wimmelt hier von Spuren, und ich habe ihr Feuer gesehen.«
»Wie viele sind es?«
Marten schüttelte den Kopf. »So nahe bin ich ihnen nicht gekommen. Sobald die Spuren sich häuften, bin ich umgekehrt. Sonst wärt ihr am Ende noch der falschen Spur gefolgt und hättet euch verirrt.«
»Und wie weit haben wir noch?«
»Wenn wir uns anschleichen, etwa eine Minute. Ihr könnt das Feuer nur deshalb noch nicht sehen, weil eine Kuppe es verdeckt.«
Die Gesichter meiner beiden Gefährten waren in dem Dämmerlicht gerade noch zu erkennen. Sie wirkten beide ganz ruhig. Schließlich waren sie für solche Einsätze ausgebildet, Marten als Spurenleser und Bogenschütze, Tempi als Krieger der legendären Adem.
|845| Auch ich hätte ganz beruhigt sein können, hätte ich einen Plan gehabt, eine List unter Einsatz von Sympathie, mit der ich die Lage zu unseren Gunsten entscheiden konnte. Doch da Dedan unbedingt schon heute Abend hatte angreifen wollen, hatte ich dazu keine Zeit gehabt. Ich hatte nichts in der Hand, nicht einmal eine schlechte Verbindung zu einem fernen Feuer.
Ich riss mich aus meinen Gedanken, bevor sie mich in Panik versetzen konnten. »Gehen wir«, sagte ich nur und stellte erfreut fest, dass meine Stimme ganz ruhig klang.
Zu dritt eilten wir im letzten Licht der Abenddämmerung weiter. Zu meiner Beruhigung konnte ich Marten und Tempi in dem grauen Einerlei kaum noch ausmachen. Dann konnte ein Wachposten der Banditen uns aus größerer Entfernung erst recht nicht erkennen.
Schon bald bemerkte ich an der Unterseite der höheren Äste vor uns den Schein eines Feuers. Geduckt folgte ich Marten und Tempi eine steile, vom Regen schlüpfrige Böschung hinauf. Ich meinte vor uns eine Bewegung zu sehen.
Ein Blitz zuckte über den Himmel. Da es schon fast dunkel war, blendete er mich, doch davor sah ich für einen Sekundenbruchteil die in ein grelles Weiß getauchte Böschung.
Auf ihr stand aufrecht ein Mann mit angelegtem Bogen. Tempi war einige Meter vor mir mitten im Schritt erstarrt. Über ihm sah ich Marten. Der alte Fährtenleser kniete und hatte ebenfalls den Bogen angelegt. Im nächsten Augenblick sah ich nichts mehr. Dann krachte der Donner, und ich hörte auch nichts mehr. Ich ließ mich auf den Boden fallen und rollte zur Seite. Nasse Blätter und Erde blieben an meinem Gesicht haften.
Als ich die Augen wieder öffnete, tanzten als Nachwirkung des Blitzes blaue Geister vor meinen Augen. Ich hörte keinen Schrei. Wenn der Posten geschrien hatte, war es im Donner untergegangen. Ich blieb liegen, bis meine Augen sich wieder an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Es dauerte eine lange Schrecksekunde, bis ich Tempi gefunden hatte. Er kniete fünfzehn Schritte über mir auf der Böschung neben einer dunklen Gestalt. Dem Posten.
Ich stieg zwischen nassen Farnwedeln und Blättern hindurch zu ihm hinauf. Über uns blitzte es erneut, diesmal schwächer, und |846| ich sah, dass ein Pfeil von Marten schräg aus der Brust des Postens ragte. Eine der Federn hatte sich gelöst und flatterte im Wind wie eine kleine, durchnässte Fahne.
»Tot«, sagte Tempi, sobald Marten und ich ihn hören konnten.
Ich wollte es zunächst nicht glauben. Selbst eine tiefe Brustwunde tötet
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