Die Gabe der Magie
der Sommer beinahe vorbei. Er hatte es Micah verboten, irgendjemandem
davon zu erzählen.
Micah berührte die Wange seiner Schwester
und sah zu, wie sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht ausbreitete. Sie war dünn.
Wie dringend sie ein Jahr mit guter Ernte brauchten! Er wartete, bis das Geräusch des Karrens und der Hufe des Zugpferdes leiser wurde und schließlich verstummte. »Ich mache
dir einen Vorschlag«, sagte er und sah Sadima in die Augen. Sie lächelte und
steckte zwei Finger in den Mund.
Liebevoll zog Micah sie wieder heraus und
versuchte, sehr ernst auszusehen. »Du kannst mit mir zur Scheune kommen, wenn
du still in der Heuraufe spielst und mich den Stall ausmisten lässt.«
Sadimas ganzes Gesicht strahlte vor
Freude. Sie schaukelte auf seiner Hüfte vor und zurück. Micah lächelte sie an
und spürte, wie ihm die Kehle eng wurde. In vielerlei Hinsicht war sie eine
Miniaturausgabe seiner Mutter. Sie konnte über die kleinsten Dinge schier verrückt
vor Freude werden – bei einem kurzen Blick auf einen rotschwänzigen Zaunkönig,
der über das Haus flog, oder beim Geruch von wildem Klee. Wenn sie erst älter
wäre, würde sie vielleicht die vernachlässigten Blumenbeete der Mutter vom
Unkraut befreien und neu bepflanzen. Micah sog den Duft ihres Haares ein und
wünschte sich, sie häufiger mit hinausnehmen zu können.
An diesem Morgen sollte er sie eigentlich,
wie immer in der Früh, im Haus lassen und in dem Raum einschließen, der einmal
das Schlafzimmer der Eltern gewesen war. Jetzt war er für Sadima hergerichtet
worden. Decken waren auf dem Boden ausgebreitet, und ihre Rupfenpuppen lagen in
einer niedrigen Tonne. Das Bettgestell der Eltern war fort – die Matratze und
das Bettzeug waren noch am nächsten Tag verbrannt worden. Die Kommode befand
sich nun in der Scheune, und in den Schubladen bewahrte der Vater Werkzeug, Zwirn und Draht auf. Pa pa schlief in
der Stube auf einer Decke auf dem Boden.
Das Zimmer wirkte groß ohne Bett und
Kommode. Wenn Micah mit Sadima darin spielte, krabbelte sie fröhlich umher und
zog sich an der Puppenkiste hoch, sodass sie stehen konnte. Aber sie weinte
heftig, wenn er hinausging und die Tür schloss, und ihr Schluchzen zerriss ihm
schier das Herz.
»Dann lass uns
gehen«, sagte er und stellte seinen Tel ler zum Rest des schmutzigen
Geschirrs ins Abwaschbe cken. Er würde
später aufräumen, wenn Sadima ihr Vormit tagsschläfchen hielt. »Sag nur
Papa nichts davon«, warnte er sie lächelnd.
Sie plapperte den ganzen Weg zur Scheune
vor sich hin und benutzte die klangvolle Lautsprache, in der es noch keine
Worte gab, was bedeutete, dass sie froh und dankbar war, mitkommen zu dürfen.
Er konnte ihre winzigen Hände spüren, mit denen sie erst auf seine Schultern
patschte und dann nach den Falten seiner Tunika griff, als sie den Hügel zur
Scheune hinabstiegen.
Micah ging langsam, damit seine Schwester
die kalte Morgenluft tief einsaugen, sich an der Farbe des Himmels freuen und
dem Rascheln der Weidenblätter lauschen konnte, wenn die Singvögel über die
Äste hüpften. Als er mit einer Hand den Riegel zurückschob und die Scheune
betrat, stieß Sadima ein leises Glucksen aus. Micah trat auf die unterste
Gatterstrebe im leeren Stall, sodass er Sadima hoch über die waagerechten
Leisten an der Futterraufe des Zugpferdes heben konnte. Dann ließ er sie sanft
in den Futtertrog hinabsinken. Sie lachte und setzte sich fröhlich hin. Micah
reichte ihr einen Sack mit geschrotetem Korn zum Spielen und begann mit dem
Melken.
Sie hatten drei Ziegen, alles Geißen.
Dunny molk er zuerst. Ihre süße, sahnige Milch behielten sie für sich selbst,
tranken sie und machten daraus ihren eigenen Käse. Allerdings gab sie kaum noch
Milch, und es wurde Zeit, dass sie wieder trächtig wurde. Tocks und Lollys
Milch wanderte in einen anderen Eimer. Papa verkaufte sie an Mr. Hod. Seine
Frau machte Sauermilch aus ihr, salzte sie und formte daraus Käse, den die
Hälfte aller Leute bis nach Ferne aßen. Die Hods bezahlten sofort mit
gehämmerten Kupfermünzen. Vom Milchgeld konnten sie Gerstensamen für den kommenden
Frühling kaufen.
Micah sah seiner Schwester zu. Zuerst
fegte sie das Getreide mit den Händen zu einem Haufen zusammen, dann schlug sie
darauf und lächelte. Er konnte hören, wie sie mit ihrer hohen Stimme vor sich
hinsang, süß und mit wenig Melodie. Als er ihr erneut den Blick zuwandte,
lutschte sie einzelne Körner. Sie schnitt eine Grimasse und drehte sich ihm
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