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Die Gabe der Magie

Die Gabe der Magie

Titel: Die Gabe der Magie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathleen Duey
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sehen konnte.
    Als ich mich wieder unter Kontrolle hatte,
nahm ich das Liederbuch von meinem Tisch und starrte auf den Titel, die
einzigen Worte, die nicht in dieser fremden Sprache geschrieben waren. Ich
schlug das erste Lied auf, dann das zweite und schließlich, ohne zu wissen,
warum, blätterte ich ziellos herum. Das zweite Lied hatte etwa die Länge des
ersten, doch die folgenden wurden immer umfangreicher. Gegen Ende des Buches
waren sie zehn und fünfzehn Seiten lang.
    Ich fühlte mich schwach, als mich die
Gewissheit traf, dass ich hier sterben würde. Selbst wenn ich die Liederprüfung
das nächste Mal bestünde, würde ich nur einige Tage lang essen können, bevor
ich für sechs, neun oder zwölf weitere hungern musste. Dann würde der Tag
kommen, an dem die Lieder einfach zu lang wären – und ich nie wieder essen
würde.
    »Gerrard?« Ich sprach, ohne es vorgehabt
zu haben, und der Klang meiner eigenen Stimme erschreckte mich.
    Mein Zimmergenosse drehte sich um.
    Da ich es mir vorher nicht überlegt hatte,
wusste ich nicht, was ich als Nächstes sagen sollte. »Ich hasse sie«, stieß ich
hervor. Es fühlte sich so gut an, es laut auszusprechen, dass ich es zweimal
wiederholte.
    Natürlich erwartete ich, dass Gerrard sich
wütend umdrehen und mich warnen würde, ich solle ihn in Ruhe lassen. Doch
stattdessen sagte er: »Ich muss den Abschluss schaffen. Ich muss .«
    Ich nickte. »Das wirst du. Du wirst
derjenige sein, dem es gelingt.«
    Zu meiner Überraschung wurden seine Augen
glasig. »Jux ist anderer Meinung. Dasselbe gilt für Franklin. Ich kann es
nicht«, hob er an und zögerte. »Ich kann meine Gedanken nicht bewegen. Außerdem
kann ich außer Fischeintopf nichts Essbares erschaffen.«
    »Dafür werde ich niemals die Lieder
erlernen«, entgegnete ich. »Ich hasse die Zauberer«, wiederholte ich noch
einmal. »Danke«, sagte ich dann. »Dafür, dass du mir die Gelegenheit gibst, es
auszusprechen, bevor ich sterbe«, flüsterte ich. »Ich hasse sie alle.«
    »Ich auch.« Gerrard stand auf und kam
näher.
    Mit einem Blick zur Decke fragte ich: »Ob
sie uns zusehen?«
    Er schüttelte den Kopf. »Nicht in den
Zimmern. Franklin verbietet es noch immer.«
    »Aber was war mit dem Lachen? Du hast es
doch auch gehört.«
    »Jux ist verrückt«, sagte er schlicht, als
sei dies Antwort genug. Er trat einen weiteren Schritt auf mich zu. Dann blieb
er stehen. »Wenn ich dir helfe«, flüsterte er mit so leiser Stimme, dass es
kaum ausreichte, die Worte zu formen, »wirst du dann mir helfen?«
    Zutiefst überrascht nickte ich. »Ja.«
    »Und wirst du mir dann helfen, diesen Ort
zu zerstören?«
    Ich wusste, dass er ein solches
Versprechen wahrscheinlich nicht würde halten können, aber ich streckte ihm
meine Hand entgegen. Er griff zu. Die Berührung
von Fleisch, von seiner Haut auf meiner Haut, rief einen plötzlichen Hunger in
mir wach, den ich zuvor nicht einmal bemerkt hatte. Wie lange war es her, dass
ich jemanden berührt hatte?
    Wir hielten unsere Hände noch ein wenig
länger umklammert. Dann setzte er sich an seinen Tisch und schlug das Buch der
Lieder auf. Mit dem Rücken zu mir begann er vorzulesen: laut, sehr ruhig,
langsam und mit ganz deutlicher Aussprache. Beim ersten Durchgang hörte ich ihm
zu, beim zweiten sagte ich es mit ihm zusammen auf. Beim dritten Mal spürte
ich, dass ich es auf eine Weise zu lernen begann, die nicht damit zu
vergleichen war, es nur im Kopf durchzugehen und dabei ständig über Worte zu
stolpern, die ich niemals richtig ausgesprochen hätte.
    Beim zehnten Mal stoppte er nach den
ersten paar Worten, und ich fuhr ganz allein fort. Ich streckte meinen Arm aus
und packte für einen Moment seinen, ehe ich mich auf mein Bett setzte und leise
weiterübte. Es war so lange her, dass meine Gedanken wirklich Gedanken gewesen
waren, keine Schreie. Noch immer hatte ich Angst, aber irgendwie hatte diese
Angst ihre Schärfe verloren.
    Später aß ich Fischeintopf und schlief
traumlos. Als der Zauberer uns schließlich weckte, verrichteten wir unsere
Notdurft und wuschen uns, und Gerrard wartete darauf, dass ich fertig war,
bevor er die Tür öffnete.

65
     
    WÄHREND SIE FRANKLINS NAMEN RIEF, RICHTETE
SADIMA SICH SCHWANKEND AUF. NIEMAND ANTWOR TETE ihr. Eine Hand gegen ihre Stirn gepresst, sah sie sich um und
versuchte, sich einen Reim auf das zu machen, was sie im Mondlicht erkennen
konnte. Bevor die Kutsche sich ganz überschlagen und ihre Insassen in die Luft
geschleudert hatte,

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