Die Gabe der Magie
das South End. Selbst ein flüchtiger Blick aus der
Ferne auf die Banden von zerlumpten Kindern und mageren Hunden machte sie
traurig, und sie fühlte sich unbehaglich.
»Höher«, wiederholte mein Vater für
Gabardino. Der Kutscher nickte.
Meine Mutter lächelte mich an. Es war ein
unechtes Lächeln, wie es bei ihr meist der Fall war. Sie drehte ihre Ringe,
betastete ihr Haar, strich ihre Röcke glatt und fing dann wieder von vorne an:
drehen, betasten, glatt streichen. Die ganze Zeit über hatte sie den Blick
starr auf mich gerichtet.
»Vielleicht gefällt es dir dort«, sagte
sie leise. Ihr Lächeln wurde wärmer. »Als du klein warst, bist du ihnen immer
hinterhergelaufen, wenn sie bei uns im Haus zu Besuch waren.«
Ich senkte den Blick, ohne etwas zu
antworten. Die Elendsquartiere des South Ends verschwanden nun hinter uns im
Nebel und mit ihnen auch der Gestank. Noch immer zog das Pony uns weiter in den
Himmel hinauf. In dieser Höhe roch alles nach Wind und Sternen. Wir flogen über
den Middle Park und Ferrin Hill, über die alten Anwesen mit ihren ausladenden
Eichen und den riesigen Blautannen, die man aus den Wäldern des Nordens geholt
hatte. Dort wollte ich leben. Die Tage, in denen man dafür mit dem König verwandt
sein musste, waren lange vorbei. Nun brauchte man dafür nur noch Gold. Aber
mein Vater konnte den Anblick eines Nachbarhauses nicht ertragen. Er hasste die
meisten Menschen. Und die meisten Menschen hassten ihn.
Gabardino ließ das Pony eine sanfte Kurve
fliegen. Meinem Vater gefiel es, über die
Malek-Gärten zu flie gen mit ihren
Teichen und den Hunderten kleiner Wasserfäl le, die von Bächen gespeist wurden, welche im Kreis flos sen. Gehorsam
stieg das Wasser den Hügel hinauf, nur um dann
wieder hinabzustürzen. Vor den Wasserfällen blüh ten ganzjährig blaue
Rosen und blutrote Lilien. Sobald auch andere Leute Wasserfälle in ihren Gärten
haben würden, würde mein Vater sein Geld für etwas Neues ausgeben.
Zweimal im Jahr wurden Kinder aus dem
South End hergebracht, und sie durften einige Stunden lang hier spielen, wie junge
Hunde, die man eben lange genug aus einem schmutzigen Heim ließ, um etwas frische
Luft zu schnappen. Dann wurden sie wieder nach Hause gefahren und erzählten
dort Geschichten von magischen Wasserfällen und Fischen, so leuchtend wie Blumen,
und von allem anderen. Einmal war ich mit dabei gewesen. Damals war ich
vielleicht sechs oder sieben Jahre alt. Ich hatte geweint, als ich die kranken,
dürren Kinder gesehen hatte, die halb verrückt vor Freude im Kreis herumgerannt
waren. Aben war nicht anwesend gewesen, und im nächsten Jahr ließ mich Vater
ebenfalls zu Hause.
Ich starrte hinunter auf das Labyrinth von
Wiesen, Wegen, Bächen und Wäldern. Die Familien von Ferrin Hill bezahlten
dafür, den Pavillon oder das Amphitheater für Hochzeiten oder Gedenkfeiern nutzen
zu können. Mein Vater überließ gegen entsprechende Bezahlung die Wälder den
Marktschreiern und die Gebäude mit der schönsten Aussicht der Gilde der
Lautenspieler. Die Eridianer mieteten den ganzen Park für ihre jährliche Feier
der Geburt .
Mein Vater musste
wissen, dass die vier langen Näch te der Ritualfeiern die Menschen von Ferrin Hill beunruhigten.
Aber er wollte die Eridianer nicht kränken, auch wenn ich ihn so viele Male über die Gerüchte hatte la chen hören,
die über sie im Umlauf waren.
»Vielleicht kennst du einige der Jungen«,
sagte meine Mutter, und an ihrer Stimme konnte ich hören, wie sehr sie sich
danach sehnte, die Stille zu durchbrechen.
Ich warf ihr einen
Blick zu und nickte. Vielleicht wür de das tatsächlich der Fall sein. Die Bewerbungen für die Akademie
wurden geheim gehalten. Mein Vater hatte mir angedroht, mich auspeitschen zu
lassen, wenn ich irgendjemandem etwas davon sagen würde. Selbst Aben ge genüber hatte ich zu schweigen. Aber in der Schule
wur de über jene von uns getuschelt, die zweite und dritte Söhne waren,
also nichts erbten und die man zu Hause nicht gebrauchen konnte.
Ich hatte so sehr versucht, bei diesem
elendigen Test durchzufallen. Noch nie zuvor in meinem Leben hatte ich etwas
derart verbissen versucht.
Ich hörte, wie die Röcke meiner Mutter
raschelten.
»Hahp?«
Ich drehte mich um und sah ihr in die
Augen.
»Gib einfach dein Bestes.«
Sie flüsterte diese Worte, fast wie ein
scheues Kind, und warf meinem Vater einen Blick von der Seite zu. Ich nickte
und schaute wieder weg.
Dann räusperte sie sich. »Bestimmt
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