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Die Gabe der Magie

Die Gabe der Magie

Titel: Die Gabe der Magie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathleen Duey
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Türknauf. Micah lächelte, als
sein Vater die Tür aufschob. Er glaubte, das schwache Wimmern des Babys hören
zu können.
    Sein Vater beugte sich ins Zimmer, dann
machte er einen Schritt hinein. Vielleicht, so dachte Micah, als er ihm
nachging, sollten sie Sadima zu sich in die Stube holen und sie halten, während
die Mutter schlief. Vielleicht sollten sie …
    Ein wortloser Schrei aus der Kehle seines
Vaters brachte seine Gedanken zum Verstummen. Er blinzelte und starrte ins
Zimmer. Die Bettlaken waren von hässlichem, dunklem Rot verschmiert. Nein.
Nicht Rot. Rotbraun. Das Blut war getrocknet. Seine Mutter lag mit starr nach
oben blickenden, offenen Augen auf dem Bett, ein angewinkelter Arm ruhte steif
auf den Laken.
    Hilflos stand Micah da, als sein Vater
neben dem Bett auf die Knie fiel. Sein Mund war verzerrt und stand offen, als
er das Gesicht seiner Frau streichelte und ihre Hände umklammerte. Micah hörte
ihn flüstern und sie anflehen, sie möge aufwachen. Auf dem Boden, nackt und
ohne Decken, lag das Neugeborene, die Haut blaugrau.
    Micah stolperte vorwärts, und seine Augen
huschten über die Kommode seiner Mutter, die Wand, das Fenster. Nichts sah so
aus, wie es sollte. Die Kommode seiner Mutter war leer. Die Kerzenständer aus
Zinn waren verschwunden, ebenso die Hochzeitsvase aus geschliffenem Glas vom
Fensterbrett. Die oberste Schublade des niedrigen Schrankes hing halb offen.
Die übrigen waren schief geschlossen worden.
    Das Baby wimmerte, und Micah fuhr
zusammen. Er drehte sich um und hob das winzige Bündel auf. Das kleine Mädchen
war eiskalt. Er knöpfte sein Hemd auf, um es auf seine nackte Brust zu drücken.
Sein Vater lag nun quer über dem Leichnam seiner Mutter und wurde von lauten
Schluchzern geschüttelt.
    Micah trug den Säugling in die Stube und
blieb neben dem Feuer stehen, um das Neugeborene zu wärmen. Dann ging er hinaus
und ließ die Trauer seines Vaters hinter sich. Er hielt seine Schwester ganz
eng an sich gepresst, und ohne einen einzigen klaren Gedanken lief er in
Richtung des Stalles. Sein Vater suchte erst am nächsten Morgen nach ihm. Er
brauchte eine Stunde, um seine Kinder zu finden. Sie lagen tief schlafend in
einem Heuhaufen vergraben, und Micah hatte seinen Körper um seine Schwester gekrümmt,
um sie warm zu halten.

4
     
    ALS DAS PONY DIE KUTSCHE HÖHER ZOG, BEGANN
ICH ZU SCHWITZEN. ICH KONNTE MEINE EIGENE ANGST riechen,
ranzig und durchdringend. Sie überlagerte den Geruch von Rosenseife auf meiner
Haut. Meine Tunika war feucht am Hals, obwohl die Luft kühl war. Ich atmete
langsam ein, um gegen das Glucksen in meinen Eingeweiden und gegen die Übelkeit
anzukämpfen, die mich beim ersten steilen Anstieg stets überfielen. Ich wollte
weder meinen Vater noch meine Mutter anblicken, und so sah ich zu, wie unser
Haus schrumpfte, je höher wir kletterten. Die Rasenflächen verblassten in der
Ferne, und das Schieferdach verschmolz mit dem grauen Nebel. Ich kniff die
Augen zusammen. Das Haus war verschwunden. Hinter mir lag nun nichts mehr.
    »Halte dich, so lange es geht, östlich des
Flusses«, wies mein Vater den Kutscher an. Gabardinos Schultern hoben sich ein
Stück, dann sanken sie wieder zurück, um deutlich zu machen, dass er verstanden
hatte. Als sich die Kutsche erneut neigte, warf ich doch einen Blick zu meiner
Mutter hinunter. Sofort bereute ich es. Ihre Augen suchten die meinen.
    »Wirst du es schaffen, Hahp?«
    »Natürlich wird er das«, mischte sich mein
Vater mit scharfer Stimme ein.
    Ich wandte mich wieder ab und starrte
hinab auf den Fluss. Das Bett wurde nun breiter, und das
Wasser floss langsamer an den Reihen von Baracken und Geschäften aus rauem
Stein vorbei. Am Kai lagen viele Schiffe, und ich konnte mir den Geruch nach
Tod und Verwesung in den Frachträumen lebhaft vorstellen. Meinem Vater war das
egal, mir jedoch wurde schlecht davon.
    South End – die südliche Stadt. Das
Elendsviertel von Limori erwachte. Das Kopfsteinpflaster war dunkel und glänzte
nass vom Nebel, der sich niedergeschlagen hatte. Die Karren mit ihren großen
Rädern und den Ponys mit struppigem Fell, die sie zogen, drängten sich in den engen
Straßen. Die Kutscher, die Köpfe voller Läuse, schrien und ließen ihre
Peitschen knallen. Ich beugte mich vor und zählte die blauen und roten Wimpel
an den Schiffen. Elf. Es gab nur sieben Malek-Schiffe im Hafen. Also war der
Großteil der Flotte ausgelaufen.
    »Höher, bitte«, sagte meine Mutter mit
weicher Stimme. Sie hasste

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