Die Gabe der Zeichnerin: Historischer Roman (German Edition)
zu äußern, am allerwenigsten über sich selbst. Auch deshalb hatte sie ein Jahr zuvor beschlossen, stumm zu werden.
Ihr Vater hatte diese Entscheidung begrüßt, wiewohl er es übertrieben und lästig fand, dass sie sogar ihm und Dunja gegenüber ihr Schweigen beibehielt. Nach anfänglicher Verärgerung hatte er es hingenommen und fand es inzwischen vernünftig, dass sie sich keine Ausnahme von der eigenen Regel gestattete. So würde sie sich niemals verplappern. Mit ihrer hellen Stimme hätte sie in Bagdad ohnehin nicht mehr lange den Knaben spielen können. Aber sie hätte ihn dort nach der Entdeckung ihres wahren Geschlechts vermutlich spielen müssen .
Iosefos hatte in ständiger Furcht vor den Spähern des Kalifen gelebt, die nach geschmeidigen schönen Mädchen mit kleinem Busen und schmalen Hüften Ausschau hielten. Diese wurden in Männerkleidung gesteckt und von erfahrenen Frauen in mannigfaltigen Künsten der Verführung unterwiesen, mit dem Ziel, fortan so manchen Spross eines Würdenträgers von seiner ungesunden Leidenschaft für Knaben oder Eunuchen zu heilen. Jene Mädchen, die auf diese Weise keinen Ehemann fanden, verschwanden später in einem Harem, eine Zukunft, die Iosefos seiner Tochter unbedingt ersparen wollte. Und sich selbst auch – denn inzwischen war er auf die peniblen Bauzeichnungen Ezras angewiesen.
Die meisten Knaben- und Eunuchenliebhaber erwiesen sich übrigens als unheilbar. So wie Abu Niwas, der Hofdichter des Kalifen, den selbst wiederholte Gefängnisaufenthalte nicht davon abhielten, mit blumigen Worten die Schönheit junger Männer zu preisen. Und der sogar noch in seiner Zelle trotzig Gedichte verfasste:
Ich tat, was mich nie wird verdrießen:
Lasse Gott und das Gold mit den Winden ziehn,
Werd’ des Buches Verbote genießen,
Und lüstern mit dir dem Erlaubten entfliehn.
Ezra wusste weder etwas von diesen sexuellen Umtrieben noch von den Befürchtungen ihres Vaters. Sie fühlte sich als Knabe wohl, hatte nie ein anderes Leben kennengelernt. Verstört hatte sie in Konstantinopel Frauenkleidung anprobiert, nicht wissend, wie sie sich darin bewegen sollte. So furchtbar der Überfall auf das Haus ihrer Tante auch gewesen war, insgeheim dankte sie dem Schicksal, das ihr erlaubt hatte, zumindest für die Dauer der wieder fortgesetzten Reise weiterhin die vertraute orientalische Männertracht tragen zu dürfen.
Sie hing in zärtlicher Liebe an ihrem Vater, der immer um sie gewesen war, solange sie denken konnte.
In früher Kindheit hatte sie ihn nach ihrem Anderssein befragt und weshalb dieses ein Geheimnis bleiben müsse. Nur für die Menschen in Bagdad, hatte er erwidert; sie könne sich natürlich jederzeit entscheiden, als ein Mädchen zu leben. In diesem Fall müssten sie sich allerdings trennen. Er würde sie zu seiner Schwester nach Konstantinopel schicken, wo sie angemessen erzogen werden würde. Er habe sie gleich nach ihrer Geburt als Knabe ausgegeben, weil sie das Einzige sei, was ihm von seiner geliebten Amina geblieben war. Als Mädchen hätte er sie schon damals weggeben müssen und nicht allein großziehen können. Diese Erklärung genügte Ezra, die Wahrheit sah allerdings etwas anders aus.
Nachdem Amina bei der Entbindung in Dunjas Armen gestorben war, fürchtete sich die Sklavin vor der grimmigen Trauer des Iosefos. Sie hatte Angst, getötet oder in einen bösen Haushalt verkauft zu werden. Zitternd hatte sie dem Baumeister das kleine lebende Bündel gereicht.
»Was soll ich mit einem Mädchen?«, hatte dieser sie angeklagt, als wäre es ihre Schuld, dass ihm kein Sohn geboren worden war. »Ich könnte es nicht ertragen, den Rest meines Lebens ein Mädchen um mich zu haben, gar einem Abbild meiner Amina in die Augen sehen zu müssen. Schaff sie mir fort!«
Dunja war klug. Außerdem war sie noch jung. Mit einem Male eröffnete sich ihr eine Möglichkeit, sich im Hause des Baumeisters auf lange Zeit unentbehrlich zu machen. Nichts verbindet Menschen tiefer als ein gefährliches Geheimnis. Sie schlug Iosefos vor, das Mädchen erst einmal als seinen Sohn zu erziehen. Den er ganz nach seinen eigenen Vorstellungen formen könne. Wie einen seiner Paläste, nur dass er bei dieser Aufgabe keinem Bauherrn Gedanken einzureden brauchte, die dieser später für seine eigenen hielt; eine Kunst, die Iosefos meisterlich beherrschte. Und die sich Dunja von ihm abgeschaut hatte.
Die Sklavin versprach, ihr Leben der Betreuung Ezras zu widmen. Mit dem dahingeworfenen
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