Die Gabe der Zeichnerin: Historischer Roman (German Edition)
bezwingbare Berge. Es schlug im Frühjahr zu, als sie sich schon fast an ihrem Ziel wähnten, nur einen Tagesritt von Aachen entfernt.
Sie hatten ihr Lager in einer schmalen Waldlichtung aufgeschlagen. Der Lastenträger des Iosefos entfachte ein kleines Feuer, um die beiden Hasen zu braten, die unterwegs von den Leibwächtern erlegt worden waren. Das staunende Gemurmel der Araber über die unendliche Tiefe des dunklen fränkischen Forsts schläferte Iosefos ein, der sich auf seinem Mantel ausgestreckt hatte. Er wollte seinen müden Gliedern nach dem anstrengenden Ritt Erholung gönnen und zudem eingeschlafen sein, ehe die Zeit für das Abendgebet angebrochen war. Sein schlechtes Gewissen beruhigte er mit der Überlegung, es unangemessen zu finden, sich in westlichen Beinkleidern gen Mekka zu verneigen. Zudem schmerzten ihm die Knie. Noch mehr aber plagten ihn ketzerische Gedanken über sein künftiges religiöses Zuhause.
Benötigte er für das bisschen Zukunft, das ihm verblieb, überhaupt den Glauben an ein allmächtiges Wesen? Wie konnte er ein solches verehren, wenn es ihm doch die geliebte Ehefrau Amina entrissen hatte? Die seine Ideen und Berechnungen einst in ebenso wunderbare Zeichnungen umgesetzt hatte, wie dies heute ihr gemeinsames Kind tat, das schon mit seiner Geburt mutterlos geworden war.
Im Wüstenreich waren Iosefos die Gesetze des Islams notwendig und natürlich erschienen; und nach dem Erlernen der arabischen Sprache war ihm der Übertritt keine Herzenssache, sondern eine logische Konsequenz gewesen. Zumal Amina darauf bestanden hatte. Den Islam hatte er jahrzehntelang als seinen Gastglauben betrachtet, der sein Leben um eine weitere Perspektive bereicherte. Er führte ihn mit den Lehren seines Geburtsglaubens auf ähnlich verständige Weise zusammen wie unterschiedliche Materialien beim Errichten eines anspruchsvollen Bauwerks. So schuf er für sich den Allmächtigen Aller, den barmherzigen Gott, dem alle Menschen, ungeachtet ihrer Religion, gleich waren. Und nach dem Tode seiner Amina spendete ihm ihr unverrückbarer Glaube an das unausweichliche Schicksal etwas Trost:
Wir gehen einen Pfad, der für uns vorgesehen,
Und wem er vorgeschrieben ist, der muss ihn gehen.
Und wem an einer Stätte zuteil soll werden sein Verderben,
Der wird an keiner anderen als an gerade dieser sterben.
Hier aber, über den Baumkronen des hohen Nordens, lauerte nur der Christengott seiner frühen Jahre. Ein Gott, mit dem er als Kind oft gehadert hatte. Wenn er glaubte, ungerecht behandelt worden zu sein, hatte er von diesem Gott Rechenschaft verlangt – auf Griechisch natürlich. Er gestand sich jetzt ein, dass ihm diese Sprache auch nach zwanzig Sommern im Reiche Harun al Raschids weitaus näherstand als das Arabische, die Muttersprache seiner geliebten Amina und ihres gemeinsamen Kindes. Konnte es an der in Konstantinopel wiederbelebten Verbindung zu den ersten Lauten seines Lebens liegen, dass sich ihm der christliche Gott jetzt wieder aufdrängte, ihm wahrhaftiger vorkam? Sein Kind kannte solche Zweifel nicht. Für Ezra, in der arabischen Wüste aufgewachsen, gab es nur Allah; daran änderte auch ihre profunde Kenntnis des Lateinischen und Griechischen nichts.
Iosefos versuchte, das heftige Rumoren in seinen Gedärmen zu ignorieren. Die ungewohnte Kost der Reise verlangte ihren Tribut. Doch dem einarmigen Mann, der so lange Zeit bequeme orientalische Gewänder getragen hatte, schauderte bei der Vorstellung, jetzt einen Platz aufsuchen zu müssen, wo er sich ungestört der noch ungewohnten Hosen entledigen könnte. Und so mühte er sich, mit weiteren Gedanken über die Verbindung zwischen Erziehung, Sprache und Religion den körperlichen Drang zu vertreiben.
Währenddessen enthäutete Dunja die Kaninchen. Isaak wollte den letzten Schimmer des Tageslichts nutzen, um sich in der Nähe des Lagers nach den ersten Trieben von Waldgemüse umzuschauen. Ezra schloss sich ihm an, was er erfreulich fand. Ihn dauerte das Kind, dem ein Geheimnis auferlegt worden war, gegen das es sich nicht wehren konnte und das ihm, wie Isaak inzwischen wusste, einen unnatürlichen Lebenswandel aufzwang.
Die Erscheinung auf den Stufen des weißen Palais in Konstantinopel hatte den Fernhändler in große Verwirrung gestürzt. Das schrieb er später dem fulminanten Schlag mit der Schneiderelle zu. Allerdings war er nicht minder verwirrt, als er nach kurzer Ohnmacht wieder zu sich kam: Vor ihm hockte das engelsgleiche Wesen. Aber jetzt
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