Dark Inside (German Edition)
MASON
»Deine Mutter hatte einen Unfall.«
Noch nie hatte ihm etwas solche Angst eingejagt.
Die Sonne schien. Es war ein schöner Tag. Anfang September. Er hatte gelacht. Die Schule hatte gerade wieder angefangen. Jemand erzählte einen Witz. Die erste Unterrichtsstunde war vorbei und Mason ging zu seinem Schließfach, als der Schulleiter auf ihn zukam. Ihn von seinen Freunden wegzog und die fünf Worte aussprach.
Deine Mutter hatte einen Unfall.
Zwanzig Minuten später kam Mason am Royal Hospital an. Er hatte nicht selbst fahren dürfen, sein Wagen stand noch auf dem Schulparkplatz. Mr Yan, der Geologielehrer, war gefahren. Mason kannte ihn gar nicht. Er war nie auf die Idee gekommen, Geologie zu belegen. Doch so etwas war jetzt nicht mehr wichtig.
Draußen brannte die Sonne vom Himmel. Es war heiß. Obwohl die Tage schon wieder kürzer wurden, hatten die Mädchen auffallend wenig an. Warmes Licht drang durch das Fenster des Hondas und heizte Masons Jeans auf. Er überlegte kurz, ob er seinen Kapuzenpulli ausziehen sollte, doch der Gedanke war viel zu platt. Viel zu normal. Wie konnte er jetzt daran denken, dass ihm vielleicht zu warm werden würde? Wie egoistisch war das denn?
Der Lehrer bot an, ihn ins Krankenhaus zu begleiten, doch Mason schüttelte den Kopf. Nein. Sein Kopf bewegte sich auf und ab, als er gefragt wurde, ob er es allein schaffe. Ja. Er solle auf jeden Fall in der Schule anrufen, wenn er jemanden brauche, um nach Hause zu kommen. Ja. Als Mr Yan davonfuhr, fiel Mason auf, dass sein weißer Honda Civic eine Delle in der Stoßstange hatte.
Jemand ist bei Rot über die Ampel gefahren und mit ihr zusammengestoßen. Seitenaufprall. Deine Mutter saß allein im Wagen. Sie liegt im Krankenhaus. Wir bringen dich hin. Du kannst jetzt nicht fahren – du stehst unter Schock.
Schock? Nannte man das so?
Irgendwie schaffte er es, das Krankenhaus zu betreten. Eine Frau an der Aufnahme sagte ihm, wo er hinmusste. Sie aß einen Bagel. Auf ihrem Ärmel prangte ein Kaffeefleck. Tiefe Falten hatten sich in ihre Stirn eingegraben und um ihren Mund lag ein verkniffener Zug. Sie wies in Richtung des Aufenthaltsbereichs und sagte ihm, er solle warten. Es waren zu viele Leute da. Mehr als der Warteraum fassen konnte. Für einen Mittwochvormittag war eine Menge los. Mason fand keinen Sitzplatz. Er zwängte sich in die schmale Lücke zwischen einem Getränkeautomaten und der Wand. Von dort konnte er alles sehen und hören.
Vor den Fenstern zuckten die Warnlichter von Rettungswagen. Sanitäter stürmten herein und schoben Tragen in die Notaufnahme. Ärzte auf den Gängen riefen hektisch Anweisungen und Krankenschwestern rannten mit Klemmbrettern und Verbandsmaterial hin und her. Der kleine Warteraum war völlig überfüllt. Niemand lächelte. Die meisten Leute starrten vor sich hin ins Leere, einige unterhielten sich im Flüsterton miteinander. Eine Frau, die ein Stück von Mason entfernt saß, machte ständig ihre Handtasche auf und zu. Ihre Augen waren rot und verschwollen, und als sie Mason ansah, stiegen ihr Tränen in die Augen und liefen über ihr Gesicht. Ihre Hände umklammerten eine rosa Decke, die mit Blut beschmiert war.
Mason starrte auf seine Füße. Er wollte nichts mehr sehen. Sein Schnürsenkel ging auf.
Irgendwann rief ein Arzt seinen Namen.
»Sie bringen sie gerade in den OP«, klärte der Arzt ihn auf. »Du kannst jetzt nur noch warten. Wenn du möchtest, rufen wir jemanden an. Gibt es jemanden aus der Familie, dem wir Bescheid geben sollen?«
Es gab niemanden. Nur Mom und ihn. Sein Vater war vor fünf Jahren gestorben, als Mason zwölf gewesen war.
»Wird sie wieder gesund?«
»Wir tun, was wir können.«
Das war keine Antwort. Es verhieß nichts Gutes.
Eine Krankenschwester brachte ihm Kaffee. Der Pappbecher verbrannte ihm die Finger. Dennoch setzte er den Becher an die Lippen und trank einen großen Schluck. Verbrannte sich die Zunge. Mason bemerkte es kaum. Er stellte den Kaffee auf den Boden neben sich und vergaß ihn sofort wieder.
Sein Telefon klingelte. Die anderen starrten ihn wütend an. Eine Mutter mit zwei kleinen Kindern warf ihm einen Blick zu, als wäre er das Böse in Person. An der Wand hing ein Schild mit dem Hinweis, Mobiltelefone auszuschalten. In der Notaufnahme waren keine elektronischen Geräte erlaubt. Warum war ihm das Schild nicht schon vorher aufgefallen? Er drückte die Ausschalttaste, ohne den Anruf entgegenzunehmen. Es gab sowieso nichts zu sagen.
Noch mehr
Weitere Kostenlose Bücher