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Die Gabe des Commissario Ricciardi

Die Gabe des Commissario Ricciardi

Titel: Die Gabe des Commissario Ricciardi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maurizio de Giovanni
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wenn sie echt wäre, befindet sich ein Neugeborenes, dessen traurige Augen die Welt bereits ansehen. Auf seinem Kopf leuchtet ein heller Kranz, es hat rosige Wangen und um das Becken ein Tuch geschlungen.
    Zuletzt ziehen die Hände einen knienden Mann mit langem, grau meliertem Bart und braunem Mantel hervor; in der geschlossenen Hand hält er einen Stock mit gebogenem Griff. Nachdem die eine Hand ihn neben die Frau gestellt hat, streichelt sie ihn langsam; sie fährt ihm mit dem Daumen über die Brust, wie um seine Beschaffenheit zu prüfen. Eine vage Erinnerung an das Blut ist den Händen vielleicht doch geblieben.
    Draußen ertönt plötzlich ein Dudelsack und eine Schalmei stößt eine lange, schmerzliche Klage aus.
    Die todbringenden Hände krallen sich am Tisch fest und erbleichen.
    Da ist sie, die Erinnerung an das Blut.

I
    Während er durch die Kälte stapfte, fragte Brigadiere Raffaele Maione sich zum hundertsten Mal, wer um Himmels willen Lust haben konnte, ausgerechnet eine Woche vor Weihnachten jemanden umzubringen.
    Nicht, dass man zu so etwas jemals Lust haben sollte, dachte Maione; Mord ist purer Wahnsinn, das Schrecklichste, was ein Mensch tun kann. Und doch erschien es ihm gerade jetzt noch schrecklicher – jetzt, wo die Kinder vor Vorfreude kein Auge zutaten, die Leute sich auf der Straße freundlich grüßten und zulächelten und alle planten, was es an Heiligabend zu essen geben sollte. Jetzt, wo die Geschäfte feierlich geschmückt waren, die Kirchen miteinander um die schönste Krippe wetteiferten, jede Begegnung von guten Wünschen zum Fest begleitet war. Wer brachte es fertig, in solchen Momenten zu töten?
    Offensichtlich gab es aber jemanden. Drum bin ich hier, sagte sich der Brigadiere und schleppe mich zu Fuß nach Mergellina in dieser Eiseskälte, der Wind dringt einem ja förmlich bis in die Knochen. Am Ende lieg ich an Weihnachten noch mit vierzig Fieber im Bett.
    Maione folgten die Wachen Camarda und Cesarano, die Gesichter tief im Mantelkragen verborgen, die Mützen bis über die roten Ohren gezogen. Sie foppten sich nicht einmal gegenseitig wie sonst immer, allem Anschein nach beschäftigten auch sie dieselben Fragen wie den Brigadiere. Mobiles Einsatzkommando, dachte Maione verärgert. Zu Fuß mobil, in Stiefeln. Zwei Autos standen dem Präsidium zur Verfügung, das eine war ständig in Reparatur, das andere galt als Statussymbol
des Polizeipräsidenten. Und wir rennen kreuz und quer durch die Stadt und kriegen Hühneraugen, ärgerte sich Maione weiter.
    Wenige Meter vor ihm ging Kommissar Ricciardi, dessen Haare sich im Wind bewegten. Er trug wie üblich keinen Hut. Wie er es anstellte, sich nicht zu erkälten, wusste nur der liebe Gott.
    Über Ricciardis rechtem Ohr erkannte der Brigadiere eine veilchenblaue Wunde, eine kahl rasierte Stelle und mehrere Stiche einer Naht. Maione erinnerte sich an den Unfall, in den sein Vorgesetzter Anfang November, vor fast zwei Monaten, verwickelt worden war und den er nur mit sehr viel Glück überlebt hatte. Die Fahrerin des von der Straße abgekommenen Wagens war auf der Stelle tot gewesen – fünfzehn Meter weit flog das Auto – und der Kommissar mit einem Kratzer davongekommen.
    Während er nun hinter ihm durch die schmalen Gassen des Chiaia-Viertels lief, sah Maione in Gedanken vor sich, wie Ricciardi im Krankenhaus aufgewacht war. Er selbst hatte an seinem Bett gesessen, fest entschlossen, dort die ganze Nacht zu wachen, als der Kommissar plötzlich die Augen aufschlug.
    Sein Blick war hellwach gewesen, der Mann vollkommen bei Bewusstsein. Jene beunruhigend klaren grünen Augen, aus denen man unmöglich Gedanken oder Stimmungen ablesen konnte, hatten ihn fixiert. Dann hatte er leise und besorgt gefragt: Siehst du mich? Siehst du mich, Maione? Kannst du mich sehen? Ja, natürlich, Commissario, hatte er geantwortet. Ich sitze doch hier neben Ihnen, wie könnte ich Sie da nicht sehen?
    Daraufhin hatte der Kommissar aufgeseufzt, war in sein Kissen gesunken und wieder eingeschlafen.
    Bereits sieben Tage später erschien er wieder im Präsidium, mit einem mehr schlecht als recht über der Wunde angebrachten Verband. Als ob er einen Monat das Bett hüten könnte, wie der Doktor es ihm aufgetragen hatte. Und nun ging er hier vor ihm in Richtung Mergellina, von wo der Anruf heute Morgen gekommen war. Maione fragte sich, was wohl in seinem Kopf vorgehen mochte.
    Ricciardi dachte an die Toten.
    Ob Weihnachten oder nicht, Brüderlichkeit oder

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