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Die Gabe des Commissario Ricciardi

Die Gabe des Commissario Ricciardi

Titel: Die Gabe des Commissario Ricciardi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maurizio de Giovanni
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Eine Frau legte die Hand auf den Mund und riss die Augen auf.
    – Die Toten, sagen Sie? Welche Toten?
    Nun schien Ferro jede Lust verloren zu haben, weiter zu reden. Er starrte Ricciardi mit aufgerissenen Augen an und wiederholte leise nuschelnd die letzten Worte des Kommissars, die Toten, die Toten, als ob er erst jetzt deren Sinn verstanden hätte.
    – Tot. Sie sind tot. Die Signora und auch der Hauptmann. Beide tot.
    Leise wiederholte er den Satz mehrere Male und schaute sich dabei um. In seinen Augen stand blankes Entsetzen. Auch Fassungslosigkeit. Die Neugierigen wandten den Blick ab. Vom nahe gelegenen Meer drang das Geräusch einer Welle, die sich an den Felsen brach.
    Ricciardi hatte die Hände nicht aus den Manteltaschen genommen. Der Wind blies ihm die Haare in die Stirn, seine Lider bewegten sich kaum. Er versuchte auszumachen, was am Verhalten des Pförtners echt war und welche Lüge der Mann womöglich zu vertuschen suchte.
    – Warum sagen Sie, die Signora und der Hauptmann seien tot? Haben Sie sie gesehen? Wo sind sie?
    Ferro schien sich zu sammeln:
    – Verzeihen Sie, Commissario. Ich habe es jetzt erst richtig begriffen. Ich habe … die Signora gesehen, durch die offene Tür. Ich bin nicht reingegangen, sondern habe nach dem
Hauptmann gerufen, mehrmals sogar, doch er antwortete nicht. Also nahm ich an … ich dachte, wenn er nicht antwortet, heißt das wohl, dass er auch tot ist.
    – Sind Sie denn sicher, dass er zu Hause ist? Könnte er nicht ausgegangen sein?
    – Nein, auf keinen Fall, er ist zu Hause. Nachmittags sehe ich ihn immer weggehen, zum Hafen. Aber um diese Zeit ist er immer da.
    Nun schaltete sich Maione ein:
    – Sie sagten vorhin, der Dudelsackpfeifer habe Sie gerufen. Was bedeutet das?
    – Es sind zwei Dudelsackpfeifer hochgegangen, um die Andacht für den dritten Tag zu spielen. Nur einen Augenblick später waren sie wieder unten, der eine ganz stumm vor Schreck, der sagt immer noch keinen Ton, er sitzt auf dem Stuhl da hinten, bleich wie der Tod. Der andere, der ältere der beiden, hat mich gerufen. Kommen Sie schnell, hat er gesagt, es ist was passiert. Ich habe mit allem gerechnet, außer mit dem … was ich vorgefunden habe.
    Ricciardi nickte, in Gedanken versunken. Dann sagte er:
    – In Ordnung. Gehen wir nachsehen. Ferro, Sie begleiten mich und den Brigadiere; Cesarano, du bleibst bei den beiden Dudelsackpfeifern und rührst dich nicht von der Stelle, wir verhören sie später. Und du, Camarda, stellst dich ans Eingangstor, es darf niemand hereinkommen, auch nicht die Bewohner, bis ich dir Bescheid sage. Gehen wir.

II
    Ferro führte Ricciardi und Maione ins Haus. Die Eingangshalle war geräumig und sauber, ausreichend beheizt und hell beleuchtet: Das Gebäude hatte offensichtlich einen gewissen Anspruch, wie viele andere in diesem Viertel, die zu Füßen des Hügels standen. Ricciardi wandte sich an den Mann:
    – Wie viele Leute wohnen hier im Haus?
    – Drei Familien, Commissario. Die Garofalos, das sind die … also, zu denen ich Sie jetzt hinbringe, die Marras, ein kinderloses Paar, das zu dieser Uhrzeit bei der Arbeit ist, und der Buchhalter Finelli im obersten Stock, ein Witwer mit fünf Kindern. Wenn er in der Bank arbeitet, sind die Kleinen gleich nebenan bei der Großmutter.
    Maione keuchte beim Treppensteigen unter der Last seiner einhundertzwanzig Kilo:
    – Das heißt, um diese Zeit ist niemand im Haus außer den Garofalos, richtig? Haben sie keine Kinder?
    – Ein Mädchen, Brigadiere, es heißt Benedetta und geht im Kloster zur Schule, denn die Tante ist Nonne. Sie kommt die Kleine morgens immer abholen. Ein Glück! Sonst wäre sie auch …
    Auf der letzten Treppenstufe vor dem Absatz des zweiten Stocks blieb Ferro stehen, ohne um die Ecke zu biegen, sein Blick war starr auf das Fenster zum Hof gerichtet.
    – Verzeihen Sie, ich schaff' das nicht. Das ganze Blut, ich kann's mir nicht noch mal ansehen.
    Ricciardi und Maione gingen an ihm vorbei. Im Halbdunkel waren zwei Türen zu erkennen, eine geschlossene und eine angelehnte, aus der ein weißes Licht fiel. Undeutlich sah man ein Stück Wand, eine Blumentapete, die Hälfte eines Wandspie
gels, eine Konsole mit einer Vase, eine gerahmte Fotografie. Sie näherten sich ein wenig, dann blieb Maione nach alter Tradition stehen und überließ Ricciardi das Feld. Die erste Inaugenscheinnahme des Tatorts war das ausschließliche Vorrecht des Kommissars.
    Ricciardi trat einen Schritt vor und öffnete die

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