Eine fabelhafte Liebesgeschichte (German Edition)
Begegnung
Klammheimlich schlich sich die Routine ins Leben des Tigers. Jeder Tag war gleich, jede Handlung automatisch und jede Abwechslung verschwunden. Aus Wochen wurden Tage, dann Stunden und schließlich Sekunden. Die Zeit vermischte sich zu einem unendlichen Mopp, der das letzte Maß an Ordnung zerstörte. Ein unendlicher Kreislauf entstand. Danach eine Spirale, die ungebremst dem Himmel entgegen steuerte. Und so kreiste er bis ans Ende seiner Tage. So oder so ähnlich wäre es wohl auf seinem Grabstein gestanden.
Doch der Tiger rettete sich in eine Traumwelt, in der er das Geschehen selbst inszenierte. In unspektakulären Rollen bekämpfte er den grausamen Alltag.
Man könnte ihn als einen eher verrückten Zeitgenossen halten. In seinen Träumen durchlebte er unterschiedlichste Phasen, die ganz unabhängig voneinander waren. Gerade hatte er seine intellektuelle Phase, in der er seine scharfen Zähne stets mit der schwachen linken Hand putzte. Er versprach sich davon seine rechte Gehirnhälfte zu trainieren. Oder war es die Linke?
Neulich hatte er seine Interkulturelle Phase, die ihn stets voller Stolz erfüllte. Schließlich verkörpert er als Tiger Rothäute, Schwarze und Weiße durch seine einzigartige Bestreifung.
„I have a dream, dass Rote, Schwarze und Weiße sich so gut ergänzen wie mein Fell!“ brüllte er oft mit tiefem Ton und marschierte durch die dunkle Höhle.
Besonders verrückt war seine kultivierte Phase. Hierin trug er gelegentlich eine schwarze Hornbrille bis ihm schwindelig wurde, aß Eis am Stiel mit einem Löffel und flechtete sich seine Barthaare zu einem schwungvollen Schnauzer. Meistens endete diese Phase, wenn er durch die Lungenzüge einer Zigarre, seine Toilette nicht mehr verlassen konnte.
Manchmal kleidete er sich altmodisch, mal elegant. Letzteres schickt sich in der modernen Tierwelt nur, wenn der Schwanz gut versteckt ist.
Seine unbeliebteste Phase war zugleich die Häufigste. In ihr verfiel er in eine tiefe Depression, die ihm sein ganzes Leid vor Augen führt. Nur Essen und viel Schlaf helfen dagegen.
Eines Tages verirrte sich eine kleine Maus in die Behausung des Tigers und war damit verantwortlich, jegliche Verrücktheit zu unterbinden. Jahrelang lebte er bereits ganz alleine. Ab und an bekam er Besuch von seinen Freunden und Familie, doch nie wollte jemand für längere Zeit in der kalten und dunklen Höhle wohnen. Ihre Anwesenheit holte den Tiger wieder ins Jetzt zurück.
Es gefiel ihm die Maus zu beobachten. Durch seine ewige Einsamkeit war er sehr glücklich über seinen neuen Mitbewohner. Jeden Morgen um die gleiche Zeit kam sie aus ihrem Unterschlupf geflitzt, um sich ein bisschen an den zahlreichen Nüssen in der Höhle zu bedienen. Wahrscheinlich hatte sie große Angst vor dem Tiger und zeigte sich deshalb nur, wenn er schlief. Doch er war wach! Jedes Mal! Mit einem minimal geöffneten Auge beobachtete er jeden Schritt dieser neuen Attraktion.
Er liebte das Schlafen und widmete viele Stunden seinem einzigen Hobby. Einzig stundenlanges Herumdösen konnte dieses Gefühl noch steigern, vor allem wenn in seiner Umgebung etwas passierte. Es gab ihm ein Geborgenheitsgefühl, das er schon sehr lange eingebüßt hatte.
Von Morgen zu Morgen fand der Tiger immer mehr Gefallen an dem wunderschönen Geschöpf. Ein Kreislauf, der allerdings nicht unendlich war. Er entschloss sich etwas zu unternehmen!
„Irgendwie muss ich sie ansprechen, möglichst ohne sie zu erschrecken.“ dachte er sich.
Auf der größten Nuss, die er in seiner Höhle finden konnte, hinterließ er eine Nachricht.
„Habe dich die letzten Wochen beobachtet. Was hältst du davon gemeinsam einen Kaffee, auf die neue Nachbarschaft, zu trinken?“
Vor Aufregung konnte der Tiger kaum schlafen, schließlich hatte er noch nie eine Fremde angesprochen. Mut und Angst durchströmten ihn. Sein Herzschlag glich einer Trommel, die ihn stundenlang vom Schlafen abhielt. Total aus der Bahngeworfen hatte er sein einziges Hobby verlernt.
Er erwachte viel später als gewöhnlich. Immer noch trommelte sein Herz. Keine Spur von der Maus, keine Spur einer Antwort. Offensichtlich hatte er ihre alltägliche Nahrungssuche verschlafen. Traurig begab er sich an den Platz, an dem er die Nuss hinterließ. Seine Nervosität war wie weggeblasen. Ein Teil von ihm freute sich diesem ungewöhnlichen Stress entgangen zu sein. Doch plötzlich erkannte der Tiger eine weitere Nuss, auf der in einer schön geschwungenen
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